Dass es mit dem Gedächtnis der meisten Leute nicht zum Besten stand, merkte Stern, als er Versuchspersonen ein Bild beschreiben liess, das sie zuvor 45 Sekunden lang betrachtet hatten. Viele schworen, Dinge darauf gesehen zu haben, die nicht dort waren. Die Frage der Zuverlässigkeit des Gedächtnisses war besonders vor Gericht wichtig. Deshalb schlug Stern das Experiment mit dem inszenierten Streit vor, dessen Zeugen sich in einer Situation befanden, die der Wirklichkeit recht nahe kam.
Nachdem der Revolver abgefeuert worden war, erfuhren die Anwesenden, dass der Streit bloss gespielt war. Fünfzehn unter ihnen - «ältere "studiosi iuris" oder Referendare» - machten darauf schriftliche oder mündliche Zeugenaussagen. Drei noch am selben Abend oder am Tag darauf, neun eine Woche später und drei erst fünf Wochen nach dem Vorfall. Kein Einziger konnte sich an alle Details der in fünfzehn Einzelschritte unterteilten Handlung erinnern. Die Fehlerrate lag zwischen 27 und 80 Prozent.
Wie zu erwarten war, konnten sich viele Zeugen nicht an den genauen Wortlaut des Gesagten erinnern. Doch überraschenderweise erfanden einige Zeugen auch Vorgänge, die nie stattgefunden hatten. Sie legten stummen Zuschauern Worte in den Mund, liessen den einen Streitenden vor dem anderen flüchten, obwohl beide stehen geblieben waren.
Die geringe Zuverlässigkeit der Aussage führte zu einer regen Diskussion unter Juristen. «Was soll aus unserer ganzen Strafrechtspflege werden, wenn ihre sicherste Grundlage, die Aussage unverdächtiger Thatzeugen, durch exakte wissenschaftliche Forschung erschüttert, wenn der Glaube an die Zuverlässigkeit unseres wertvollsten Beweismaterials untergraben wird?», fragte Franz von Liszt in der «Deutschen Juristen-Zeitung». William Stern, der das Experiment angeregt hatte, plädierte dafür, Experten in den Zeugenstand zu rufen, die das Gericht bei der Beurteilung einer Aussage beraten sollten. Ein Vorgehen, das heute üblich ist.