Diese Aussage schiebe ich jetzt mal freundlich auf die vorgerückte Stunde, ansonsten hätte ich sie als Beleidung auffassen müssen.
Ich stimme mit @lektoratte überein, die da schrieb:
Und möchte hinzufügen: Für dich mag „liberal“ das andere Ende deiner Skala sein. Für andere stellt es sich als Wischi-Waschi dar, weil sie denken, da schwenkt jemand sein Fähnchen mit dem Wind. Dabei ist aus meiner Sicht eine konsequente liberale Haltung die Mitte der Skala. Aus der heraus man möglichst vorurteilsfrei die verschiedensten Positionen betrachtet und darin eine Balance zu finden versucht. Die nach Möglichkeit auch weltlich und geistlich miteinander zu einem harmonischen Ganzen verbindet. Das ist alles andere als einfach und bequem. Es ist jedenfalls aufwendiger und unbequemer als einfaches Schubladendenken.
Deswegen kann ich dir auch hier nicht zustimmen:
Wie oben geschrieben, es ist nicht der leichtere Weg, auch diesen Weg muss man mit Hingabe bewusst gehen und auch dieser Weg hat seinen Preis.
Das ist mir viel zu pauschal geurteilt. Um das zu beurteilen, müsste man das ganze Leben eines jeden Einzelnen kennen und ihm obendrein noch in den Kopf gucken können. Kann ich nicht, deshalb halte ich mich an: „Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.“
Zumal offenbar auch die Thora zur Frage, wie weit Verzicht gehen soll, eine Balance fordert. Nämlich: So viel Freude an der Reichhaltigkeit des Lebens, wie es Gott ehrt und so viel Verzicht, wie es Gott ehrt.
Ich möchte noch einmal näher darauf eingehen, damit du mich verstehst.
Ich schreibe nur aus einer Sichtweise. Ich kenne verschiedene, von liberal bis -. Aber ich schreibe aus einer Sicht.
Für mich ist liberal nicht das Ende einer Skala, sondern Teil einer Theorie die bei Chabad verbreitet ist.
Sie besagt, das ist die Grundlage die wir zuerst ansehen müssen, dass es unumstößliche Gebote gibt. Und bevor du einen weltlich liberalen Einwand rufen möchtest, bitte ich dich, sie einmal stehen zu lassen. Es sind unter anderem die Gebote zur Sittsamkeit, Speisevorschriften, Eheverpflichtungen. Alles einzeln aufzuzählen würde den Rahmen sprengen, aber sie sind bekannt. Diese Gebote und Verbote werden als gegeben angesehen. So weit so gut.
Bei Chabad hat alles und da sind wir in der Kabbala zwei Seiten die sich gegenüber stehen. Gott hat die Seele so geschaffen, dass die Pflichten und Gebote eine Wohltat für uns sind und uns auf den richtigen Weg bringen. Nun besagt die Theorie der zwei Seiten jedoch, dass wir auch die Kehrseite in uns haben. Eine Abneigung und Unlust gegen die Gebote und Pflichten.
Bei Christen sind das soweit ich weiß die niederen Instinkte? Wollust? Oder der Teufel der dich verführt?
Bei Chabad ist es die Gegensätzlichkeit. Die Gebote und Pflichten ziehen die Seele an und sie stoßen sie ab. Somit entsteht ein innerer Konflikt, der jeden Tag auf´s Neue ausgefochten werden muss. Sich dem zu stellen gilt als spirituelle Arbeit. Der Rebbe hat sogar gesagt, dass Menschen die diesen Kampf sehr deutlich spüren, die einen starken Widerwillen gegen die Gebote in sich tragen, eine sehr starke Seele haben. Das muss sie sein, um sich diesem Widerwillen zu stellen.
Der liberale Jude ist in dieser Theorie jemand, der sich seiner spirituellen Arbeit entzieht. Er flüchtet sich in Ablenkungen wie Materialismus oder eine säkulare Gesellschaft. Vielleicht hat er eine starke Seele. Der Rebbe faszinierte sich für solche Menschen. Aber diese Menschen haben noch keinen Zugang zu ihrer Seele.
Der 'Liberale' ist in dieser Theorie das genaue Gegenteil von dem, was du ihm zuschreibst. Er bringt nichts in Einklang, sondern steht mit beiden Beinen auf nur einer Seite.
Der orthodoxe Jude hingegen ist derjenige, der immer wieder mit beiden Seiten ringt. Der spirituell und weltlich in Einklang bringen will, der mit Willen und Widerwillen kämpft, der sich immer fragt wie die Gebote gemeint sind und wie er sie erfüllen soll.