Da der Artikel hinter einer Bezahlschranke, aber wie ich finde lesenswert ist, kopiere ich mal zumindest Passagen:
Bahnfahren im Jahr 2023 ist vor allem ein fortgesetzter Vermeidungsprozess. Der routinierte Reisende weiß: Stress und Warterei können am besten dadurch vermieden werden, dass schon bei der Routenplanung auf die Vermeidung von Umstiegen geachtet wird. Das ist das Wichtigste, denn wenn die erste Bahn schon verspätet ist, wird er den sogenannten Anschluss nicht kriegen, dann muss er auf dem Weg etwa von Bremen nach München in Hannover ewig auf die nächste Verbindung warten. Nichts gegen Hannover Hbf. Aber wer dort größere Teile seiner Lebenszeit wartend verplempert und mittlerweile von jeder Bahnhofstaube mit Umarmung und Gimme four begrüßt wird, weil er halt schon hundertmal sein Le-Crobag-Croissant mit ihr geteilt hat, der ist offen für Alternativen und findet im aktuellen Fahrplan ja auch Routen übers Ruhrgebiet. Dauert ewig lange, dafür ist kein Umstieg nötig. Das ist das Kriterium, nach dem im Jahr 2023 eine Fahrt mit der Deutschen Bahn zu buchen ist: mögliche Übel gegeneinander abzuwägen und sich dann für das kleinste zu entscheiden. Denn heftig wird es sowieso.
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Der größere Zusammenhang: die Bahnreform von 1994. Die gute alte Bahn ist seitdem wie ein Privatunternehmen aufgestellt, einerseits dem Gemeinwohl verpflichtet, andererseits auf Börsenfitness getrimmt und also gewinnorientiert. Deshalb gab es in den Jahren und Jahrzehnten nach der Privatisierung: die Schließung von Bahnhöfen, den massiven Personalabbau, das zentrale öffentliche Reisemittel wurde auf Verschleiß und so direkt gegen die Wand gefahren. In der Hitze der Profitgier verdrängt wurde, dass eine Bahn Menschen und Zeug von hier nach da bringen soll, das ist ihr Sinn und Zweck. Stattdessen: wurde bei Auslandsgeschäften Geld verbrannt, in Deutschland nur noch auf rentable Strecken gesetzt, etliche Groß- und Mittelstädte wurden vom Fernverkehr einfach abgehängt, Gleise zurückgebaut, die Anzahl der Weichen praktisch halbiert. Gibt es keine Weichen mehr, kann ein Zug nicht mehr – Achtung – ausweichen, wenn ein vor ihm fahrender Zug liegen geblieben ist. Dann bleibt, siehe ICE 613 von Bremen nach München, das Bistropersonal des einen Zuges im anderen Zug hängen. Es ist der größere Zusammenhang. Aber es ist im Detail immer wieder auch ganz simpel.
Nämlich so: Die Deutsche Bahn, privatwirtschaftlich organisiert, aber zu 100 Prozent in Staatsbesitz, ist von politischen Entscheidern in den erbärmlichen Zustand versetzt worden, in dem sie jetzt ist. Und wesentlich verantwortlich für den Zustand der Bahn sind die Bundesverkehrsminister – in den für die Verkehrswende wegweisenden Jahren 2009 bis 2021 waren das, in der Reihenfolge ihres Auftretens, Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt, sehr kurz Christian Schmidt, Andreas Scheuer. Alle von der CSU, alle aus Bayern, es sind alle sehr selbstbewusste, für Kritik kaum empfängliche Super-Egos, wie sie die CSU seit Jahren und Jahrzehnten in beachtlicher Schlagzahl respektive Taktung hervorbringt. Früher in der ziegenledernen Variante, heute in der maßgeschneiderten, à la Andi Scheuer.
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Also, Zahlen bitte: Schon 2018 kam heraus, dass die Bahn 16 Prozent ihrer Schienen stillgelegt hat, auf aktuell gut 33 000 Kilometer. Es wurde abgebaut statt ausgebaut – anders natürlich auf der Straße. Von 2018 bis 2021 seien nur 67 Kilometer Schiene neu in Betrieb genommen worden, bilanzierte zum Ende von Scheuers Dienstzeit das NEE. „Zum Vergleich: Der Zubau von Straßen beträgt deutschlandweit (...) jährlich rund 10 000 Kilometer.“
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Noch ein paar Zahlen? Während andere europäische Länder ihre Bahnen seit Jahren für die Zukunft und den dringend benötigten Verkehrswandel ausstatten, investierte Deutschland in die Bahn in peinlichem Ausmaß. Staatliche Investitionen in die Schieneninfrastruktur: 2012 (Dienstzeit Ramsauer) gab Spitzenreiter Schweiz 349 Euro pro Bürger aus, Österreich 258 Euro, Deutschland 51 Euro. 2016 (Dienstzeit Tunnelgott Dobrindt) Schweiz 378 Euro, Österreich 198 Euro, Deutschland 64 Euro. 2021 schließlich (Dienstzeit Scheuer) Luxemburg 607 Euro, Schweiz 413 Euro, Deutschland im Vergleich mit ausgewählten europäischen Ländern wieder sehr weit hinten, Eurovision-Song-Contest-artig auf dem viertletzten Platz, 124 Euro.
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Ein zentrales Verkehrsmittel for the people ist heruntergewirtschaftet worden. Es ist, als wären die Krankenkassen nur noch eingeschränkt nutzbar. Man muss diese Unfassbarkeit ruhig mal auf sich wirken lassen, wenn man auf einem Bahnhof rumsteht, wartend: Dass jetzt so viel gebaut und geflickt wird bei der Bahn, ist nicht „die Schuld“ vom amtierenden Verkehrsminister Wissing, der halt gerade etwas bequem weggehasst wird – es ist die Folge jahrzehntelanger Schlamperei. Aus dem Bericht des Bundesrechnungshofs 2019: „Das an Kapazitätsgrenzen stoßende Schienennetz ist marode.“
Die Deutsche Bahn befindet sich durch das wesentliche Wirken der Herren Ramsauer, Dobrindt und Scheuer in einem nahezu irreparablen Zustand, die derzeit laufende „Generalsanierung“ ist auf etwa vier Jahrzehnte veranschlagt. (Hoffentlich kommt es nicht zu Verspätungen.) Das Fahrplan-Modell aus der Schweiz sollte bis 2030 nach Deutschland übertragen werden, nun ist die Zielvorgabe für den Deutschlandtakt bis 2070 verschoben wurden. Zwanzigsiebzig! Dann ist der junge Fußballspieler Jamal Musiala 67. Billie Eilish, 69, geht dann hoffentlich noch einmal auf Welttournee. Zwanzigsiebzig bedeutet auch, dass sehr, sehr viele Leserinnen und Leser keine funktionierende Deutsche Bahn mehr erleben werden. Politisches Vollversagen lässt sich selten klarer erkennen an jedem einzelnen Tag, an dem man in Hannover oder sonst wo dicke Tauben betrachtet.
Die Drei von der Tankstelle haben also ganze Arbeit geleistet. Ums mal mit dem Scheuer Andi zu sagen: Wow.