Ich bin erst jetzt zum Thema gestoßen und habe auch nur zwei Seiten überflogen. Ich bin seit gestern damit beschäftigt, Infos zu sammeln und mir meine Gedanken zu machen. Deshalb ist dieser Beitrag eine Art von Brainstorming (sorry, manchmal brauche auch ich das), das wohl auch ziemlich unsortiert ausfallen wird.
Mich beschäftigt dieser Fall deshalb so, weil meine Freundin mit ihrer Familie bis Mitte Oktober in Winnenden gewohnt hat. Im Oktober ist sie mit ihren beiden schulpflichtigen Töchtern ausgewandert. Bis gestern hielt ich das für eine absolute Schnapsidee und Katastrophe, heute bin ich mir nicht sicher, ob sie damit nicht vielleicht eine noch größere Katastrophe von ihrer Familie abgewendet hat...
- Statement von Schäuble am heutigen Tage: Ich hatte üble Befürchtungen, dass er diesen Fall mal wieder zum Anlass nehmen könnte, sein eigenes Trauma aufzuarbeiten. Ich war angenehm überrascht, dass er so viel Gespür bewiesen hat. Denn er hat Recht: Solchen Fällen wird man mit Gesetzen nicht beikommen können. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird man sie nie verhindern können.
- Waffenbesitz: Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit Schäuble einer Meinung sein würde (obwohl ich das in den 80ern auch von Geissler gedacht habe), aber ich muss zugeben, er hat Recht: Die Waffengesetze sind verschärft worden, schärfer geht es kaum. Und gegen die Missachtung von Gesetzen ist kein Kraut gewachsen.
- Egoshooter: Ich glaube, dass sie ohnehin vorhandene Tendenzen verstärken/verschärfen können. Ich glaube nicht, dass sie "unproblematische" Charaktere problematisieren können. Und soweit ich weiss, wird diese Sicht auch von wissenschaftlichen Studien bestätigt. Ob man solche Spiele "braucht" oder nicht, ob man sie mag oder nicht, das ist tatsächlich Geschmacks- und Ansichtssache. Ich frage mich allerdings, ob es nicht möglich wäre, dass junge Menschen, die sowieso schon mit dem Gedanken spielen, "so etwas" (für sich selber werden sie den Begriff "Amoklauf" sicher nicht denken) zu tun, sich bewusst mit Egoshootern "desensibilisieren" und "innerlich einstellen". So etwas wird man aber nie wirklich unter Kontrolle bringen. Wer will, wird immer in der Lage sein, an indizierte Spiele heranzukommen.
- Zugangskontrollen zu Schulen. Nonsens! Was würde es mit den Psychen der Kinder anrichten, wenn sie täglich in eine Festung kommen müssten, um dort Wissen eingetrichtert zu bekommen? Letztere Fehlentwicklung haben wir sowieso schon, wenn dazu dann auch noch der permanente Belagerungszustand käme, dann könnten wir - bezogen auf die psychische Entwicklung - eine ganze Generation in die Tonne drücken.
Langsam nähere ich mich den eigentlich wichtigen und schwierigeren Aspekten.
Die Angehörigen, die überlebenden Schüler tun mir unendlich leid! Sie haben unglaublich viel zu verarbeiten. Nicht umsonst kommt immer und immer und immer wieder die Frage nach dem Warum. Dieses Warum ist so allgegenwärtig bei unvorhergesehenen, ungerechten, unverhinderbaren Katastrophen, dass man sie schon im Buch Hiob findet und man ihr ab dem 18. Jh. in der christlich-philosophischen Tradition einen Namen gegeben hat: Theodizee. Meine persönlichen Meinung: Es gibt keine Antwort, es sei denn, man findet sie in sich selbst. Es sei denn, dass es einem gelingt, das Schlimme für sich (und vielleicht auch für andere) in etwas Positives zu wandeln. Wie bspw. die Mutter eines Sohnes, der Selbstmord begangen hat, und die eine Selbsthilfegruppe gegründet hat und seit einigen Jahren Eltern in der selben Situation unterstützt.
Ich trauere um die Menschen - vor allem die Schüler -, die getötet wurden und ihre Leben jetzt nicht mehr leben können und dürfen. Ich habe nicht so ein großes Problem mit Kindern, die eine schwere Krankheit durchleben und letztendlich den Kampf verlieren. Weil sie ganz häufig einen inneren Entwicklungs- und Erkenntnisprozeß durchmachen, den so mancher unbelastete Mensch bis zum hohen Lebensalter nicht bewältigt. Für die Eltern ist es natürlich die Hölle, und selbstverständlich wäre auch den Kindern ein langes, gesundes, glückliches Leben gegönnt, aber sie hatten zumindest eine Möglichkeit, die den gestern Ermordeten völlig genommen wurde. Zu einem Zeitpunkt aus dem Leben gerissen zu werden, zu dem das "eigentliche" Leben erst anfängt, ist einfach nur unfair. Den "Sinn" darin/dahinter können nur die Angehörigen schaffen.
Was den Täter betrifft, so habe ich in allererster Linie Wut.
Wut darüber, dass jemand, der um seine Depression weiss, seine Behandlung selber abbricht.
Wut darüber, dass er - wenn er es denn nicht ertragen kann - nicht einfach Selbstmord begeht, sondern vorher noch so viele Jugendliche mitnimmt, die ihm nie irgendetwas getan haben können.
Wut darüber, dass sein Vater offenbar leichtsinnig geworden ist (was man ja durchaus nachvollziehen kann - der Sohn war kein Kind mehr, im Laufe der Jahre (in denen nie etwas passiert ist) verliert sich das Gefühl für die tatsächliche Gefährlichkeit des Sports und des Sportgeräts). Dass er auch die potentielle Gefahr in der Erkrankung seines Sohnes nicht gesehen hat. Der hätte ja auch einfach mit der Waffe Selbstmord begehen können. Die Schuld des Vaters wäre dann nicht geringer.
Der Wunsch, dass es noch Tabus geben würde.
Amokläufer wollen ja häufig ihrem Leben ein Ende setzten - aber nicht, ohne vorher noch einen furiosen Schlusspunkt zu setzen, der sie - gewissermassen - unsterblich macht. "Für immer" ins Gedächtnis gebrannt. Leider gelingt es ihnen ja auch. Wie wir gestern und heute in der Berichterstattung erleben musste.
Aber es gab eine Zeit der Tabus: Da wurde ein Mensch aus der Gemeinschaft ausgestossen, indem seine Existenz negiert wurde. Der Name wurde nicht mehr genannt. Das Verbrechen wurde nicht mehr genannt. Er wurde aus dem Gedächtnis der Gemeinschaft gelöscht. Sein Vater hatte ihn nicht gezeugt, seine Mutter hatte ihn nicht geboren, seine Gewschwister hatten nie einen Bruder. Das würde ich mir für solche Amok-Läufer wie Tim - die bei ihrem Amoklauf sterben - auch wünschen. Wer überlebt, sollte die Chance zur Reue und vielleicht zur Wiedergutmachung haben. Wer sich dem feige entzieht, sollte mit einem Tabu belegt werden.
Und das Argument, dass die Beschäftigung mit dem Täter tiefschürfende Erkenntnisse darüber zulassen könnte, wie "solche Leute" ticken, und dass man damit vielleicht weitere Fälle verhindern könnte, zieht nicht. Denn jeder "dieser Leute" tickt anders. Und gerade ihr vorher unauffälliger Lebenswandel macht sie - unter dem Strich - nicht fassbar.
Man wird Amok-Läufe - genauso wie Selbstmorde oder Beziehungstaten - nicht verhindern können.
Auch, wenn der Hinweis nachdenklich macht, dass Deutschland nach den USA und Kanada den dritten Platz bei solchen Taten belegt. Oder der Hinweis, dass es in deutlich extrovertierteren Gesellschaften wie Spanien, Italien oder Griechenland dieses Phänomen nicht gibt.
Die haben dafür andere Probleme (behaupte ich mal). Und es wird unmöglich sein, die Ausrichtung eines ganzen Volkes zu ändern.
Es wäre allerdings ein sehr großer Gewinn - für die ganze Gesellschaft und vor allem für die Betroffenen -, wenn durch ein solche Katastrophe mal ein nachhaltiges Nach- und Umdenken in unserer Gesellschaft einsetzen würde. Ein Umdenken, das zu einer Spur mehr Empathie und Altruismus, zu etwas weniger Mobbing und Ellenbogeneinsatz führen würde.
Damit wäre schon sehr viel gewonnen. Und der Tod der Opfer hätte einen nachhaltigen Sinn.
Viele Grüße
Petra