4 Wochen Ukraine-InvasionDruck, Zensur und Schweigen
Stand: 24.03.2022 04:53 Uhr
Vor vier Wochen griffen russische Truppen die Ukraine an. Die Folgen sind auch in der russischen Gesellschaft verheerend: Zehntausende reisen aus, ein Menschenrechtler fürchtet sich vor einer "Archaisierung" Russlands.
Aus dem ARD-Studio Moskau
Dicht gedrängt steht die Menschenmenge vor dem Luschniki-Stadion in Moskau. "Ich bekomme keine Luft", ächzt eine Frau leicht panisch. Über ihrem Kopf wehen orange-schwarz gestreifte Fahnen mit aufgedrucktem Z. Die Farben des Georgsbands und das Z signalisieren hier Zustimmung für den Krieg in der Ukraine, der öffentlich als "Militäroperation" bezeichnet werden muss. "Heimat, Freiheit, Putin", skandieren sie immer wieder. Auch Parteien und Familien mit Kindern sind vertreten - und die martialisch auftretenden "Nachtwölfe", Russlands größter Bikerclub, ein enger Verbündeter des Kreml. Anlass für die Massenversammlung ist der achte Jahrestag, an dem sich Russland die zuvor annektierte ukrainische Halbinsel Krim offiziell einverleibt hat.
Am sogenannten Krimtag vor dem Luschniki-Stadion in Moskau: Orange-schwarze Georgsbänder und das "Z". Bild: ARD-Studio Moskau
Die unter Druck herbeigeschafften oder wirklich begeisterten Massen jubeln Putin kurz darauf zu. Die Krimbewohner hätten sich gegen Nazismus und Völkermord gewehrt, sagt der russische Präsident in einer kurzen Rede. Auch der Rest der Ukraine müsse befreit werden, behauptet er. Im Zusammenhang mit Kritikern spricht Putin Mitte März von "Gesindel" und "Verrätern", die man ausspucken müsse; sein Sprecher redet offen von "Säuberungen". Und das neue russische Zensurgesetz sieht Freiheitsstrafen von bis zu 15 Jahren vor für alle, die falsche Informationen verbreiten, unter anderem über die russische Armee. Zudem wurden Facebook und Twitter gerichtlich verboten und mit die letzten unabhängigen Medien dichtgemacht, darunter der Fernsehsender Doschd und der Radiosender Echo Moskwy.
Kein Rückenwind für große Proteste
All das habe die ohnehin herrschende Atmosphäre von Angst und Einschüchterung weiter verschärft, konstatiert Lew Ponomarjow, Direktor der Nichtregierungsorganisation "Für Menschenrechte". Vor wenigen Tagen beschmierten Unbekannte den Büroeingang in Moskau mit großen schwarzen Buchstaben Z und V - Symbole für die Unterstützung russischer Truppen in der Ukraine. Ein eindeutiger Einschüchterungsversuch. Unter anderem nach Veranstaltungen wie dem Krim-Jahrestag käme so etwas häufiger vor, sagt der 81-Jährige. In seinem Alter müsse er sich nun Gedanken machen, wie er Faschismus in der Russischen Föderation bekämpfen könne, denn dieser trete immer offener zu Tage, sagt Ponomarjow, der eine Petition gegen den Ukrainekrieg gestartet und mehr als 1,2 Millionen Unterschriften gesammelt hat.
Vor wenigen Tagen beschmierten Unbekannte den Büroeingang der Organisation "Für Menschenrechte" mit großen schwarzen Buchstaben Z und V. Bild: ARD-Studio Moskau
Schon Ende der 80er Jahre organisierte er Proteste und zivilen Widerstand mit. Nicht alle Menschen in Russland seien für Putin, meint er. Doch mit friedlichen Massenprotesten wie kurz vor dem Ende der Sowjetunion, 2011 nach der Parlamentswahl oder 2021 für den Oppositionellen Alexej Nawalny rechnet er nicht: Hunderttausende könne man ohne den Rückenwind der Zeit nicht auf die Straße bringen. Nach Angaben der unabhängigen russischen Rechtshilfeorganisation OVD-Info wurden in mehr als 50 Städten rund 15.000 Menschen wegen Antikriegsprotesten festgenommen, die meisten in Moskau und Sankt Petersburg.
Grüne Bänder im öffentlichen Raum sollen die ukrainischen Farben Gelb und Blau symbolisieren, doch viele sind in den Städten bisher nicht zu sehen. Anders als in Russland gebe es in der Ukraine eine richtige Protestkultur, findet Ponomarjow. Putin räche sich nun erneut an den Ukrainern für die Maidanproteste 2013 und 2014.
Ponomarjow befürchtet "Archaisierung"
Die wegen des Kriegs verhängten Sanktionen entfalten für jeden sichtbar Wirkung. Abgesehen von geschlossenen Läden gibt es in Supermärkten erste Lücken in den Regalen. Zehntausende haben Russland seit dem 24.2. den Rücken gekehrt. Aus Perspektivlosigkeit, Protest, Furcht vor Repressionen oder wirtschaftlichen Folgen. Darunter Schauspieler, Regisseure, Angehörige von Unternehmen und Medien, Oppositionelle. Sie reisten in EU-Länder aus, aber auch nach Armenien oder Georgien, wo sie keine Einreisevisa benötigen. Allein nach Georgien kamen laut dortigem Innenministerium 30.000 Menschen, 18.000 reisten weiter.
Dies bedeute eine Archaisierung der Gesellschaft, analysiert Menschenrechtler Ponomarjow die Ausreisewelle: Bleiben würden passive Menschen, die eher für die russische Führung seien und zudem Angst hätten, als "Volksfeinde" abgestempelt zu werden. All dies werfe Russland um Jahre zurück. Angesichts der Sanktionsfolgen und damit steigender Armut hält er sozial motivierte Proteste durchaus für möglich.
Trotz aller Unsicherheit - Ponomarjow wirkt erstaunlich gelassen. Angst verspüre er nicht und ausreisen kommt für ihn nicht in Frage. Die Schmierereien hat er der zuständigen Moskauer Behörde gemeldet. Normalerweise käme diese schnell, doch bisher hätte sie sich Zeit gelassen, meint er. Die Anfeindungen gehen weiter. Am Mittwoch sprühten mehrere Angreifer Pfefferspray in das Büro und beleidigten das Team. Einer der Angreifer soll Ponomarjow schon beschimpft haben, als dieser die Petition gegen den Krieg dem Präsidialamt überreichte.