Gefunden !!
Vom kurzen Gedächtnis
Kampfhunde und andere Aufreger - Von Dieter J. Opitz
Vor gut einem halben Jahr wurde Deutschland von einer grausamen Tragödie bewegt und erregt. Zwei kräftige Kampfhunde, von ihren Besitzern gar nicht oder nur nachlässig gesichert, sprangen ohne ersichtlichen Anlass in einen Hamburger Schulhof , zerfleischten und töteten einen sechsjährigen Jungen vor den Augen seiner Schulkameraden. Ein Aufschrei des Entsetzens ging durchs Land, und die Politiker entfalteten geradezu hektische Aktivität.
Beinahe über Nacht verschärften die Bundesländer ihre Verordnungen über das Halten von Hunden, Zucht- und Einfuhrverbote für Kampfhunde wurden verhängt, tierärztliche Charakterprüfungen und Maulkorbzwang für Hunde von einer bestimmten Größe angeordnet. Polizei und Ordnungsämter stritten, wer gegen aggressive Kampfhunde einzuschreiten habe, und eine heiße Debatte entbrannte, welche Rassen überhaupt unter diesen nur vage definierten Begriff fielen. Hundefeinde stießen Drohungen gegen die Tiere und Hundefreunde Drohungen gegen die Hundefeinde aus. Ein anderes Thema öffentlicher Erregung schien überhaupt nicht mehr zu existieren.
Nun war das furchtbare Schicksal des türkischen Jungen Vulkan in der Tat geeignet, Emotionen aller Art zu wecken. Auch hatte es ja an Befürchtungen und Warnungen vor scharf gemachten Tieren nicht gefehlt. Doch nichts war geschehen. Als ein pensionierter Berufskollege vor Jahren ein einschlägiges Buch mit dem amüsanten Titel «Wenn Adenauer Hunde geschlachtet hätte» veröffentliche (dann wäre er nicht 16 Jahre Bundeskanzler geblieben, lautete die Schlussfolgerung), erregte er zwar kurzfristig Aufmerksamkeit. Es gab Fernsehdiskussionen, zu denen Hundehalter ihre gefährlich aussehenden Vierbeiner mitbrachten. Als aber der vermeintliche Hundefeind vor laufender Kamera mit ein paar niedlichen Welpen spiegelte, war das Thema durch, nicht mehr interessant.
In den zuständigen Länderministerien sah niemand Eilbedürftigkeit, obwohl die Zahl der Kampfhunde sichtlich zunahm und auch die Zahl der Zwischenfälle. In der Rotlichtszene, aber auch unter ganz normalen jungen Leuten wurden die muskulösen Tiere zum Statussymbol. Aber in Deutschland muss offenbar immer erst etwas Dramatisches passieren, ehe etwas passiert. Und wenn der mit Unglück oder Skandal einher gehende Nervenkitzel abebbt, gerät auch das dahinter steckende Problem aus dem Blickfeld. Gewohnter Trott setzt ein - bis die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird.
Der Prozess um den Tod des Türkenjungen Volkan wurde durch andere Aufreger-Themen in den Hintergrund gedrängt. Erst als sich die Urteilsverkündung näherte, wurde die Aufmerksamkeit wieder geweckt. Auf politischer Ebene stellte sich bald heraus, dass jedes Bundesland eine selbstgestrickte Verordnung mit speziellen Ge- und Verboten erlassen hatte, bald die eine, bald die andere Rasse ein- oder ausschließend. Ein gesetzestreuer Hundehalter, der sich an alle hält, müsste sich bei einer Fahrt quer durch Deutschland an die Kleinstaaterei früherer Jahrhunderte erinnert fühlen. Inzwischen einigten sich die Innenminister von Bund und Ländern auf eine Vereinheitlichung. Ein Ergebnis steht aber noch aus. Immerhin sieht man jetzt weniger Kampfhunde auf der Straße, und die allermeisten tragen mittlerweile Maulkörbe.
Gestern hat das Hamburger Landgericht über die beiden jungen Leute, deren Kampfhunde den kleinen Vulkan töteten, die Urteile verkündet. Sie fielen moderat aus. Wobei mitspielte, dass die Hundehalter unter eigener Gefahr versucht hatten, die rasenden Tiere von dem unglücklichen Opfer wegzureißen. Am Ende entscheiden auch über aufwühlende Ereignisse nüchterne Paragraphen. Doch die grausame Szene auf dem Schulhof wurde noch einmal lebendig, und mancher wird vielleicht fragen, wie weit menschliche Gerechtigkeit reicht. Doch bald werden nur noch Volkans Eltern, denen niemand ihr Kind zurückgeben kann, trauern und hadern.
Das öffentliche Interesse aber wird sich neuen Aufregern zuwenden, Katastrophen und Skandalen oder was man dafür hält. Und wird auch sie bald wieder vergessen, weil schon das nächste brandheiße Thema unsere Aufmerksamkeit gebieterisch einfordert. Schwarze Parteikassen und Ministerrücktritte, Sebnitz, BSE und uranhaltige Munition, «Big Brother», die Scheidung der Beckers oder Joschka Fischers wilde Jahre - ob von existenzieller Wichtigkeit oder nur aufgeblasene Nichtigkeit: wir springen auf jede Neuigkeit an, die unsere Emotionalität zu wecken vermag, und lassen sie alsbald wie ein zerbrochenes Spielzeug liegen. Das öffentliche Gedächtnis ist erbärmlich kurz. Ex und hopp.
Was soll man daraus schließen? Neigen die Deutschen, wie manche ausländischen Beobachter meinen, dazu, zwischen Hysterie und Depression zu schwanken? Oder sind wir Mitspieler in einer Mediengesellschaft, die virtuos auf der Klaviatur der Gefühle spielt? Reicht, was uns die Schule vermittelt, nicht aus, um Sein und Schein zu unterscheiden? Sind wir emotional so ausgetrocknet, dass nur immer neue Sensationen uns das Gefühl geben, am echten Leben teilzuhaben?
Ach, es mag an allem etwas dran sein. Und doch trifft es nicht den Kern. Auf dem Grunde unserer Sucht auf erregende Neuigkeiten liegen Eigenschaften, die zur Grundausstattung eines jeden Menschen gehören: Neugier, Angst vor dem Unbekannten, Mitgefühl. Ihrer braucht man sich nicht zu schämen, denn sie sind lebenswichtig.