Ich gehe tatsächlich nicht unbedingt davon aus, dass jemand, der in den späten 1980er oder frühen 1990er Jahren als Schüler solche Sprüche gekloppt oder solche Blätter verfasst hat, im Kopf was anderes als hohl und im Herzen auch heute noch ein Nazi ist.
Zumindest nicht automatisch.
Das war - zumindest bei uns war das so - quasi die ultimative Provokation.
Wenn man gegen das Establishment sein wollte, ohne "links" zu sein, weil Punkrock einem nicht lag, musste man den "verkappten" Nazi geben, und zwar auch und grade in der Schule bei progressiven Lehrern.
(Und es funktionierte auch umgekehrt: Ein Junge aus meinem Sportverein, der erst als Mitgründer einer örtlichen Neonazi-Vereinigung von sich reden machte, überwarf sich mit deren anderem Anführer, kassierte Kloppe und gründete daraufhin in der Kreisstadt die erste Antifa-Ortstruppe. Hauptsache irgendwie gegen was und im Unterricht jede Diskussion an sich reißen und Phrasen dreschen. Aber das nur am Rande.)
Und bevor einer fragt: Ich hab das nie gemacht, wo meine Meinung aus heutiger Sicht grenzwertig war, hab ich dazu gestanden, aber weil es meine Meinung war, nicht um zu provozieren.
Witze über den Holocaust oder antisemitsche oder ausländerfeindliche Sprüche oder sowas hab ich weder nötig gehabt noch gewollt, das gehört sich auch da nicht, wo man evtl. anderer Meinung ist.
Ich habe aber durchaus miterlebt, wie sowas von anderen Schülern an meiner Schule eingesetzt wurde. Nämlich wie beschrieben. Und wie im Wesentlichen auch von Aiwangers Bruder wiedergegeben.
Das "ging" von ganz normalen Haushalten aus (was jetzt auf unseren glaube ich nicht so
ganz zutraf) , weil der gesamte Mainstream viel weiter rechts oder viel weiter im konservativen Lager verortet war als heute.
Und Judenwitze halt durchaus mit so einem "Gehört sich ja nicht, aber" von vielen Leuten erzählt wurden. Von denen ich es nicht erwartet hätte.
Bei uns gab es sowas nicht, und große Teile meiner Familie standen politisch damals recht von der AfD, wohlgemerkt.
Aber ich schweife ab...
Was ich damit sagen will, ist, dass für mich tatsächlich weniger das Problem ist, was Aiwanger als Schüler gesagt oder getan hat.
Der ist alt genug, um sich seither diesbezüglich grundlegend geändert haben zu können, theoretisch. Und das würde ich ihm so zugestehen, wie ich es für mich in Anspruch nehme.
Was ich aber absolut problematisch finde, ist diese P
rovinzpolitiker-typische stümperhafte Art, sich damit und mit den eigenen Verfehlungen auseinanderzusetzen.
"Ich sag da nichts zu. Ich war des gar nicht. Ich weiß von nichts. Man hat mich missverstanden. Und ich bin überhaupt nur das Opfer einer Medienkampagne. (Was zwar mMn in gewisser Weise stimmt, aber nicht so selten ist - und ja unmittelbar aus etwas folgt, was er gesagt oder getan hat.)"
Dazu vor Jahren anscheinend schon Vertuschungsversuche.
Statt zu sagen: "Jawoll, so und so war es, ich war dumm, es ist mir heute extrem peinlich - nicht nur, erwischt worden zu sein, sondern sowas gesagt zu haben und mich so aufgeführt zu haben - und nun macht daraus, was ihr wollt. -
Meine Politik bleibt dieselbe, ich sage und tue heute sowas natürlich nicht mehr - ihr könnt mich für das wählen, was ich heute tue, oder für das abstrafen, was ich früher gemacht habe... das liegt bei euch. Ich akzeptiere die Konsequenzen."
Wäre das so, wäre es tatsächlich ok für mich - wählen kann ich ihn ja nicht und hätte ihn vorher schon nicht gewählt, aber
menschlich wäre das für mich vertretbar.
So wie gerade erscheint es einfach nur arm. In jeder Beziehung.