Natürlich ist es immer schon so gewesen, dass die ältere Generation über die jüngere meckerte und sie nicht verstand. Das liegt auch in der Natur der Sache. Ich muss meinen eigenen Weg finden, also muss ich mich auch von meinen Eltern (und deren Generation) distanzieren- nur so ist auch eine gesellschaftliche Weiterentwicklung möglich (ohne diese jetzt bewerten zu wollen *g *).
Mein Blick mag ein wenig gefärbt sein durch meinen Job, aber ich empfinde es so, dass entweder der Druck und auch der Perfektionsanspruch an die Kinder gestiegen ist oder aber die Kinder halt „nebenher“ laufen. Oder, als drittes Konstrukt, sie als Partnerersatz dienen.
Manchmal hab ich das Gefühl, dass bei der Kindererziehung das „Bauchgefühl“ abhanden gekommen ist. Die Waage zwischen Grenzen ziehen und Freiheit geben. Kinder brauchen Grenzen, in erster Linie um sie überschreiten zu können.
Ich hatte noch die Möglichkeit, relativ frei aufzuwachsen, dh ich konnte auf der Straße spielen, auf Bäume klettern, mir die Knie aufschlagen, durch Wiesen rennen, was weiß ich.
Ich erinnere mich relativ gut daran, dass meine Mutter stets sagte „Bis da und da hin dürft ihr laufen“ und wir immer weiter gegangen sind...was ich nicht wusste war, dass ihr das bewusst war, sie uns die Grenze früher setzte und damit rechnete, dass wir sie überschreiten.
Ich wüsste nicht, wie ich das heute mit eigenen Kindern realisieren sollte. Ich wüsste nicht, wo ich meine Kinder frei rennen lassen könnte und „entspannt“ zuhause sitzen könnte, während ich weiß, dass sie draußen ihre Grenzen überschreiten und ihre Gegend erkunden.
Das liegt nicht unbedingt daran, dass „so viele böse Menschen“ draußen rumrennen, vielmehr daran, dass mensch relativ schnell an eine Hauptstraße gelangt und die Freiflächen weniger geworden sind...(btw. Ich konnte nie was mit Spielplätzen anfangen, hab mich lieber in Feld und Wiesen rumgetrieben...die Wahl fällt heute weg).
Das freie Erkunden der Umgebung fällt heute ziemlich weg. Ich hab da so ein Schaubild vor Augen, in dem es darum ging, wie Kinder früher ihre Umgebung erkundeten, was in Spiralform eingezeichnet war und wo auch die Grenzüberschreitungen klar zu erkennen waren, und wie das heute aussieht, wo Inseln gezeichnet waren (Mama fährt mich zu XY, wo wir im Garten spielen), wo Grenzüberschreitungen nicht mehr möglich waren.
Da Kinder aber nun mal Grenzen überschreiten wollen, sehen diese Grenzüberschreitungen heute anders aus. Und sie kommen vielleicht auch später erst „zu Tage“ d.h. fallen auf, weil sie vorher nur in den eigenen vier Wänden stattfinden, weil die Kids gar keine andere Möglichkeit mehr haben.
Zum Druck: Zum Einen steigt der Druck auf die Kinder, immer schneller immer erwachsener und erfolgreicher zu sein. Wenn ich mir die heutigen 5.KlässlerInnen angucke, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich im selben Alter noch auf Bäume geklettert bin und mit Lego gespielt habe...in der Schule sollen sie erfolgreich sein, im Hobby möglichst auch noch, sie sollen so wenig wie möglich Kind sein und müssen sich in die hektische Welt der Erwachsenen einfügen (wobei mir immer ein Lied von Wir sind Helden einfällt, wo es meinem Verständnis nach um ein Kind geht, was keine Zeit hat, all die Wunder, die um es herum passieren, zu realisieren, weil die Erwachsenen es immer weiter ziehen...).
Dieses Los trifft übrigens auch, wenn nicht noch viel schlimmer, die Kinder, die von ihren Eltern wenig wahrgenommen werden, die „so nebenher laufen“, weil die in der Schule ebenso diesem Druck ausgesetzt sind, Zuhause aber nicht mal die Möglichkeit haben, aufgefangen zu werden.
Aber auch der Druck auf uns Erwachsenen steigt (die medial und gesetztlich gemachte Panik z.B. arbeitslos zu werden). Ich hab dazu keine Statistiken zur Hand, aber die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt ebenfalls. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Kinder. Kinder, die aus Haushalten mit psychisch kranken Eltern kommen, haben meist eine Rolle übernommen, die eher die eines Erwachsenen entspricht. Sie haben Verantwortung für ihre Eltern übernommen. Oder aber sie haben eine ambivalente Beziehung erlebt, indem sie nicht wussten, wie Mama oder papa reagieren, wenn sie sie ansprechen. Oder aber sie sind dermaßen verankert in der kranken Welt ihrer Eltern, dass sie die Welt gar nicht mehr real wahrnehmen können. Oder halt alles gleichzeitig...
Die lokale Nachrichtensendung in Bremen verbreitete gestern, dass die Inobhutnahmen von Kindern seit 2004 um 50% gestiegen sind. Natürlich darf mensch bei dieser Zahl nicht vergessen, dass sich das Bremer Jugendamt noch in einem kollektiven Schockzustand befindet, seit vor etwa 2 Jahren die Leiche des kleinen Kevins im Gefrierschrank seines Ziehvaters gefunden wurde- nach diesem Vorfall sind die Zahlen noch mal eklatant gestiegen, weil alle lieber zu früh als zu spät eingreifen.
Und die Meldungen z.B. aus der Nachbarschaft werden mehr, was ich jetzt auch nicht weiter bewerten will...
Ich empfinde es aber schon so, mag wie gesagt an mir liegen, dass Kindererziehung immer schwieriger wird und immer häufiger in die Hose geht.
Nun ist aber eine Herausnahme letztendlich nur ein Notanker, die Schädigung der Kinder auch nicht zu unterschätzen.
Ich denke, das Ganze ist eine Kombination aus vielen Faktoren:
- Der steigende Druck auf alle
- Der Perfektionsanspruch an Kinder und Eltern
- Fernsehberichte, die „belegen“, wie schlimm die Jugendlichen heutzutage sind
- Fehlender Freiraum oder auch zu viel Freiraum
- Fehlende Möglichkeiten der „seichten Grenzüberschreitung“ (irgendjemand schrieb hier auch von dem klassischen Beispiel der Äpfel aus Nachbars Garten)
- „Generationskonflikt“
LG
Sina