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Nackter Wahnsinn
Leiden für die Extravaganz: Wie der Mensch seine Lieblinge zu degenerierten Monstern macht
VON MARTIN A. SENN UND ANNELIES FRIEDLI
Zürich - Ein niedlicheres Knuddeltier findet sich nicht einmal im Spielwarengeschäft. Nur einen Fehler hat der chinesische Faltenhund Shar-Pei: Das Tier, das mit seinem viel zu grossen Fell aussieht wie ein schlecht gestopfter Teddybär, lebt - und leidet.
Zwischen den Fellfalten des vermeintlich fröhlichen Spielhundes bilden sich ätzende Ekzeme, die oft die lebenslange Einnahme von Antibiotika nötig machen. Augäpfel und Augenschlitze sind mitunter so verschoben, dass die Tiere erst nach einem chirurgischen Eingriff sehen können. «Shar-Pei», giftelt der Hinwiler Tierarzt Stephan A. Braun, «sind ein Paradies für Tierärzte. Aber ich bin nicht bereit, Tiere umzubauen, die der Mensch kaputtgezüchtet hat.»
Eine Art frankensteinsches Panoptikum ist aus der domestizierten Nachkommenschaft des wilden Wolfs geworden. Das handkleine Nackthündchen und der 1000 Gramm leichte Chihuahua stammen ebenso vom halbzentnerschweren Canis Lupus ab wie ein 120-Kilo-Koloss der Rasse Mastin Español.
Die vermeintliche Tierliebe von Züchtern und Ausstellungsmachern ist eine von vielen Erscheinungsformen des menschlichen Drangs zur Beherrschung der Natur. Wie sich diese dagegen wehrt, ist in den Krankheitsgeschichten der Kleintierpraxen eindrücklich dokumentiert. Rund 400 neue Erbkrankheiten haben die Veterinäre allein bei Hunden in den vergangenen 70 Jahren ausgemacht. Statt unter den Launen der Natur leiden die vierbeinigen Lieblinge zunehmend unter den Launen ihrer Zuchtmeister.
Da fallen dem Schosshündchen im zarten Alter schon die Zähne aus - und Nachwuchs, sofern seine Madame so etwas unanständig Tierisches überhaupt will, kann es wegen seines Zwergwuchses ohne Kaiserschnitt nicht haben. Derweil brauchen die vergleichsweise winzigen Bernhardinerwelpen allerlei Glück, um nicht vom angezüchteten Übergewicht ihre Mutter totgequetscht zu werden. Boxer, Pekinesen und Möpse leiden wegen ihrer eingedrückten Schnauze oft an chronischer Atemnot, Schluckbeschwerden und Herzschwäche. Chihuahuas müssen ihr Leben schon mal wegen eines Klapses auf den Kopf aushauchen, weil sich die Zuchtmeister für sie eine offene Fontanelle als Rassenmerkmal ausgedacht haben - und mitunter sogar Tiere mit fast gänzlich fehlender Schädeldecke prämiert werden. Die Dalmatiner, weltweit als niedliche Kinolieblinge verehrt, leiden ihrer weissen Grundfarbe wegen überdurchschnittlich häufig an Taubheit. Sogar der Berner Sennenhund, das Symbol der heilen helvetischen Ländlichkeit, gehört zur Risikogruppe der Grosshunde, die meist vorzeitig wegen schwerer Hüftgelenkschäden oder Magendrehungen verenden.
Anderen Tierarten geht es nicht besser. Nacktkatzen, die in der freien Natur erbärmlich frieren und sich rasch verletzen würden, gelten vor allem in besseren Kreisen als erstrebenswertes Damenaccessoire. Kaninchenzüchter posieren mit Mümmelmännern, deren «Ohrenspannweite» 60 Zentimeter oder mehr betragen. Bei Truthähnen wurde die Brustmuskulatur züchterisch derart vergrössert, dass der Paarungsakt für die Tiere zur fiebrigen Sisyphusarbeit wird: Jedes Mal, wenn der Hahn die Henne besteigt, kippt er wegen seiner unnatürlichen Gewichtsverteilung vornüber wieder von ihr weg. Fleischkühe der Rasse der Blauen Belgier haben ein derart überzüchtetes Hinterteil, dass sie ohne Kaiserschnitt nicht kalben können. Reissverschlusskühe werden diese Wiederkäuer ihrer langen Geburtsnarben wegen in Fachkreisen genannt.
Während die Qualzüchterei bei Nutztieren immerhin eine eindeutige Motivation hat, Mehrertrag und Profit, liegen die Gründe für das perverse Tun bei Heimtieren ziemlich im Dunkeln. «Diese Frage wurde in der Wissenschaft bisher vernachlässigt», bestätigt Thomas Bartels vom Institut für Tierzucht der Universität Bern. «Möglicherweise», mutmasst er, «basiert die Extremzucht teilweise auf der Familientradition oder ist Ausdruck einer Extravaganz - ähnlich wie bei Autos»: Die überlangen Kaninchenohren als lebendiger Ersatz für den Heckspoiler, das Nackthündchen als kynologisches Pendant zum putzigen Roadster?
Tierschützer sehen es prosaischer. Für Rita Dubois, die Geschäftsführerin von «Pro Tier», steht ausser Frage: «Wer Perserkatzen, Nacktkatzen, Faltenhunde, Nackthunde, Pekinesen oder Möpse züchtet, will nur Geld machen.»
Tatsächlich geht es in der Extremzucht mitunter um eindrückliche Beträge. Während ein normaler Wellensittich für rund 50 Franken zu haben ist, wechseln rare Schauwellensittiche auch schon mal für 5000 oder mehr Franken den Käfig. In Japan lösen Züchter, denen es gelingt, einen weissen Zierkarpfen mit einem roten Punkt auf dem Kopf hervorzubringen, für dieses schwimmende Nationalemblem schon mal gegen umgerechnet 100 000 Franken. Doch das sind rare Ausnahmen. Eine goldene Nase verdienen sich die wenigsten Züchter.
Gutes Geld machen hingegen Pharmaindustrie, Tierärzte und Medizinalbranche. Für Hüftgelenk-Operationen verlangen die Tierärzte bis zu 3000 Franken, ein eingerolltes Augenlied kann für 450 bis 550 Franken operativ behoben werden, eine Hautraffung bei Shar-Peis kostet rund 1000 Franken. Um weitere Folgen der Zucht zu beheben, bietet der Pharmakonzern Novartis allerhand Mittel zur Parasitenbekämpfung und Herzmittel an - ja sogar Clomicalm, ein Psychopharmakon, das dem so innig an sein Herrchen gewöhntes Tier über den Schmerz einer auch noch so kurzen Trennung hinweghilft.
Für die Züchter ist es ein Hobby, so harmlos wie Briefmarkensammeln
Andere Firmen bieten Hüftgelenk-Prothesen, metallische Laufhilfen für gelähmte Hunde, Windeln für Tiere, die als Folge der Überzüchtung ihren Kot nicht halten können, Gelenkverbände, Wärmemäntelchen für Kurzhaar und Nackttierchen, Augentropfen oder Nasentropfen an. Weltweit legte der Tiermedikamentenmarkt für Heimtiere laut Branchenschätzung 1999 um knapp zehn Prozent auf ein Umsatzvolumen von sechseinhalb Milliarden Franken zu.
Die Qualzüchterei selber hingegen ist mehrheitlich immer noch ein Hobby - in den Augen derer, die es betreiben, ebenso unbedenklich wie Briefmarkensammeln. Folgerichtig konterte denn ein Schweizer Züchter den Vorwurf der Tierschützer, Langohrkaninchen seien das Produkt «züchterischer Gestaltungswut», letzte Woche im «Blick» kurz und bündig: «Wer so etwas behauptet, ist ein Trottel.» Mitarbeit: Martin Spycher
Nackter Wahnsinn
Leiden für die Extravaganz: Wie der Mensch seine Lieblinge zu degenerierten Monstern macht
VON MARTIN A. SENN UND ANNELIES FRIEDLI
Zürich - Ein niedlicheres Knuddeltier findet sich nicht einmal im Spielwarengeschäft. Nur einen Fehler hat der chinesische Faltenhund Shar-Pei: Das Tier, das mit seinem viel zu grossen Fell aussieht wie ein schlecht gestopfter Teddybär, lebt - und leidet.
Zwischen den Fellfalten des vermeintlich fröhlichen Spielhundes bilden sich ätzende Ekzeme, die oft die lebenslange Einnahme von Antibiotika nötig machen. Augäpfel und Augenschlitze sind mitunter so verschoben, dass die Tiere erst nach einem chirurgischen Eingriff sehen können. «Shar-Pei», giftelt der Hinwiler Tierarzt Stephan A. Braun, «sind ein Paradies für Tierärzte. Aber ich bin nicht bereit, Tiere umzubauen, die der Mensch kaputtgezüchtet hat.»
Eine Art frankensteinsches Panoptikum ist aus der domestizierten Nachkommenschaft des wilden Wolfs geworden. Das handkleine Nackthündchen und der 1000 Gramm leichte Chihuahua stammen ebenso vom halbzentnerschweren Canis Lupus ab wie ein 120-Kilo-Koloss der Rasse Mastin Español.
Die vermeintliche Tierliebe von Züchtern und Ausstellungsmachern ist eine von vielen Erscheinungsformen des menschlichen Drangs zur Beherrschung der Natur. Wie sich diese dagegen wehrt, ist in den Krankheitsgeschichten der Kleintierpraxen eindrücklich dokumentiert. Rund 400 neue Erbkrankheiten haben die Veterinäre allein bei Hunden in den vergangenen 70 Jahren ausgemacht. Statt unter den Launen der Natur leiden die vierbeinigen Lieblinge zunehmend unter den Launen ihrer Zuchtmeister.
Da fallen dem Schosshündchen im zarten Alter schon die Zähne aus - und Nachwuchs, sofern seine Madame so etwas unanständig Tierisches überhaupt will, kann es wegen seines Zwergwuchses ohne Kaiserschnitt nicht haben. Derweil brauchen die vergleichsweise winzigen Bernhardinerwelpen allerlei Glück, um nicht vom angezüchteten Übergewicht ihre Mutter totgequetscht zu werden. Boxer, Pekinesen und Möpse leiden wegen ihrer eingedrückten Schnauze oft an chronischer Atemnot, Schluckbeschwerden und Herzschwäche. Chihuahuas müssen ihr Leben schon mal wegen eines Klapses auf den Kopf aushauchen, weil sich die Zuchtmeister für sie eine offene Fontanelle als Rassenmerkmal ausgedacht haben - und mitunter sogar Tiere mit fast gänzlich fehlender Schädeldecke prämiert werden. Die Dalmatiner, weltweit als niedliche Kinolieblinge verehrt, leiden ihrer weissen Grundfarbe wegen überdurchschnittlich häufig an Taubheit. Sogar der Berner Sennenhund, das Symbol der heilen helvetischen Ländlichkeit, gehört zur Risikogruppe der Grosshunde, die meist vorzeitig wegen schwerer Hüftgelenkschäden oder Magendrehungen verenden.
Anderen Tierarten geht es nicht besser. Nacktkatzen, die in der freien Natur erbärmlich frieren und sich rasch verletzen würden, gelten vor allem in besseren Kreisen als erstrebenswertes Damenaccessoire. Kaninchenzüchter posieren mit Mümmelmännern, deren «Ohrenspannweite» 60 Zentimeter oder mehr betragen. Bei Truthähnen wurde die Brustmuskulatur züchterisch derart vergrössert, dass der Paarungsakt für die Tiere zur fiebrigen Sisyphusarbeit wird: Jedes Mal, wenn der Hahn die Henne besteigt, kippt er wegen seiner unnatürlichen Gewichtsverteilung vornüber wieder von ihr weg. Fleischkühe der Rasse der Blauen Belgier haben ein derart überzüchtetes Hinterteil, dass sie ohne Kaiserschnitt nicht kalben können. Reissverschlusskühe werden diese Wiederkäuer ihrer langen Geburtsnarben wegen in Fachkreisen genannt.
Während die Qualzüchterei bei Nutztieren immerhin eine eindeutige Motivation hat, Mehrertrag und Profit, liegen die Gründe für das perverse Tun bei Heimtieren ziemlich im Dunkeln. «Diese Frage wurde in der Wissenschaft bisher vernachlässigt», bestätigt Thomas Bartels vom Institut für Tierzucht der Universität Bern. «Möglicherweise», mutmasst er, «basiert die Extremzucht teilweise auf der Familientradition oder ist Ausdruck einer Extravaganz - ähnlich wie bei Autos»: Die überlangen Kaninchenohren als lebendiger Ersatz für den Heckspoiler, das Nackthündchen als kynologisches Pendant zum putzigen Roadster?
Tierschützer sehen es prosaischer. Für Rita Dubois, die Geschäftsführerin von «Pro Tier», steht ausser Frage: «Wer Perserkatzen, Nacktkatzen, Faltenhunde, Nackthunde, Pekinesen oder Möpse züchtet, will nur Geld machen.»
Tatsächlich geht es in der Extremzucht mitunter um eindrückliche Beträge. Während ein normaler Wellensittich für rund 50 Franken zu haben ist, wechseln rare Schauwellensittiche auch schon mal für 5000 oder mehr Franken den Käfig. In Japan lösen Züchter, denen es gelingt, einen weissen Zierkarpfen mit einem roten Punkt auf dem Kopf hervorzubringen, für dieses schwimmende Nationalemblem schon mal gegen umgerechnet 100 000 Franken. Doch das sind rare Ausnahmen. Eine goldene Nase verdienen sich die wenigsten Züchter.
Gutes Geld machen hingegen Pharmaindustrie, Tierärzte und Medizinalbranche. Für Hüftgelenk-Operationen verlangen die Tierärzte bis zu 3000 Franken, ein eingerolltes Augenlied kann für 450 bis 550 Franken operativ behoben werden, eine Hautraffung bei Shar-Peis kostet rund 1000 Franken. Um weitere Folgen der Zucht zu beheben, bietet der Pharmakonzern Novartis allerhand Mittel zur Parasitenbekämpfung und Herzmittel an - ja sogar Clomicalm, ein Psychopharmakon, das dem so innig an sein Herrchen gewöhntes Tier über den Schmerz einer auch noch so kurzen Trennung hinweghilft.
Für die Züchter ist es ein Hobby, so harmlos wie Briefmarkensammeln
Andere Firmen bieten Hüftgelenk-Prothesen, metallische Laufhilfen für gelähmte Hunde, Windeln für Tiere, die als Folge der Überzüchtung ihren Kot nicht halten können, Gelenkverbände, Wärmemäntelchen für Kurzhaar und Nackttierchen, Augentropfen oder Nasentropfen an. Weltweit legte der Tiermedikamentenmarkt für Heimtiere laut Branchenschätzung 1999 um knapp zehn Prozent auf ein Umsatzvolumen von sechseinhalb Milliarden Franken zu.
Die Qualzüchterei selber hingegen ist mehrheitlich immer noch ein Hobby - in den Augen derer, die es betreiben, ebenso unbedenklich wie Briefmarkensammeln. Folgerichtig konterte denn ein Schweizer Züchter den Vorwurf der Tierschützer, Langohrkaninchen seien das Produkt «züchterischer Gestaltungswut», letzte Woche im «Blick» kurz und bündig: «Wer so etwas behauptet, ist ein Trottel.» Mitarbeit: Martin Spycher