[...]Die Scheu des Wolfs vor dem Menschen ist die Folge einer Jahrtausende langen Verfolgungsgeschichte. Wölfe, die dem Menschen aus dem Wege gingen, hatten die größten Überlebenschancen. Durch diese Selektion ist das Feindbild Mensch in den Wölfen genetisch stark fixiert. Andererseits sind diese Tiere aber eben auch hoch intelligent und dazu in der Lage, sich auf die unterschiedlichsten Lebensräume einzustellen, also auch auf die mitteleuropäische Kulturlandschaft.[...]
Das heißt: Es sind etwa zehn Wolfsgenerationen in Deutschland und seinen Nachbarländern herangewachsen, die keine oder kaum schlechte Erfahrungen mit dem Menschen gemacht haben. Sie wurden nicht gejagt, ihre Welpen wurden nicht ausgegraben und getötet.
Und wenn sie durch Dörfer schleichen, dann treffen sie nur noch ganz selten auf wütend bellende Kettenhunde, denn Hunde werden heute auch auf dem Land als Familienmitglieder betrachtet, die abends auf dem Sofa Platz nehmen dürfen. Warum also sollte eine Wolfsmama ihren Wolfskindern einschärfen, sie müssten sich unter allen Umständen vor dem bösen Menschen hüten?
Die Wölfe sind große Lehrmeister. Und gerade lehren sie uns, dass wir ihnen Grenzen aufzeigen müssen, wenn die neue Nachbarschaft sich für beide Seiten erquicklich entwickeln soll. Wolfsfreunde haben den verständlichen Hang, die Gefahren, die von Wölfen ausgehen können, herunterzuspielen.
Sie antworten damit reflexhaft auf die Versuche aus Schäfer- und Jägerkreisen, diese Gefahren zu dramatisieren und den "Ernstfall" herbeizureden.
Verantwortliches Wolfsmanagement muss über diesen beiden Aktivistenparteien stehen. Es muss klar aussprechen, dass die Nachbarschaft mit großen Raubtieren auch eine Zumutung ist, nicht nur für Schafhalter, sondern für jeden. Von Afrikanern etwa erwarten wir ja mit großer Selbstverständlichkeit, dass sie sich mit sehr viel gefährlicheren Räubern arrangieren, damit wir auf unseren Safaris etwas zu fotografieren haben. Auf der anderen Seite aber muss Wolfsmanagement die neue Vertrautheit und Vertraulichkeit der Wölfe bekämpfen. Nicht jeder neugierige Jungwolf ist ein Problemwolf.
Aber es schadet ihm nichts, wenn er die Erfahrung macht, dass ihm Knallkörper um die Ohren fliegen, wenn er durchs Dorf schleicht.