Hinter dem Regenbogen

OrcaJG

10 Jahre Mitglied
Für Paule.
Und Laika, Spike, Becker,... und all die anderen dort draussen.

Hinter dem Regenbogen

Der Junge trat aus dem alten Schuppen, in seinen Händen zwei Holzlatten, die er mühsam zusammengenagelt hatte. Er streifte die Kapuze seines gelben Regenmantels über, bevor er durch das schwere Tor in den Nieselregen trat.
In einer Ecke des Gartens war sein Großvater damit beschäftigt, ein Loch aufzufüllen. Der Regen verwandelte den Boden in Schlamm, und der alte Mann fluchte leise. Er trug denselben gelben Mantel wie sein Enkel, Gummistiefel und eine blaue Arbeitshose, was ihn einigermaßen trocken hielt.
„Komm her mein Junge.“
Der Junge erschrak, als er die Worte des Großvaters hörte. Er zitterte ohnehin. An diesem Tag gab es eigentlich nichts, was ihn nicht zum zittern brachte. Er klammerte seine kleinen Hände an das Holzkreuz, so als wollte er verhindern, dass man es verwendet. Als könnte man etwas ändern, was nie mehr rückgängig gemacht werden kann.
Der Großvater strich ihm liebevoll über die Stirn. Seine Hände waren voller Lehm, und ein dicker Lehmstrich blieb auf der Stirn des Jungen zurück.
„Es ist schön geworden“ meinte er und musterte das Holzkreuz, auf das mit einfachem Stift und mit kindlicher Schrift der Name „Momo“ geschrieben war.
Er nahm es und rammte es hinter den kleinen Erdhügel, der das provisorische Grab bedeckte.
„Oh Volker, ja es ist noch etwas lieblos, aber gleich morgen gehen wir in die Stadt ein paar Blumen kaufen, einverstanden?“
Der Junge schluckte.
„Opa, sag mal, meinst du dass Hunde in den Himmel kommen?“
Der Großvater schien sich über diese Frage zu wunder und hob überrascht seine Augenbrauen. Dann lächelte er.
„Herrje, wäre es denn ein Himmel – ohne Hunde??“
Volker schwieg. Sein Großvater nahm ihn am Arm.
„Komm, lass uns reingehen. Ich glaub`, wir gehören beide unter die Dusche.“
Beide verließen den Garten und setzten sich an den kleinen Tisch, der in der Mitte der Küche stand. Erst jetzt merkte Volker, wie verdreckt sie beide waren.
„Hast du Lust auf einen Kakao? Ich geh jetzt duschen, und wenn ich fertig bin, mach ich dir ein Bad. Willst du?“
Normalerweise hätte sich der Junge darüber gefreut, doch heute wollte einfach keine freudige Stimmung aufkommen.
Der alte Mann stellte eine Tasse mit dampfenden Kakao auf den Tisch, bevor er ins Badezimmer ging.
Volkers Blick reichte ins unendliche. Er stand auf, um sich im Wohnzimmer die Beine zu vertreten.
Die Ereignisse des Tages wiederholten sich in seinem Kopf: Wie sie Momo am morgen in ihrem Körbchen gelegen hatte, zu schwach zum aufstehen. Normalerweise hatte sie ihn schwanzwedelnd begrüßt, doch in den letzten Monaten ging es ihr immer schlechter. Ihre alten Knoch machten ihr zu schaffen, und der Tierarzt, den sie später aufsuchten, sagte, dass sie Krebs hatte.
Momo war ein paar Jahre älter als Volker. Seine Mutter hatte sie einst zu sich genommen, als sie noch ein Baby war. Sie war ein stattlicher Hund, fast ganz weiß mit einem schwarzen Fleck auf dem Rücken und einem an ihrem Kopf, der sich über ihr linkes Ohr erstreckte. Volker und seine Mutter hat es nie gestört, wenn die Leute sie schief angeschaut haben, wenn sie durch die Strassen gingen. Jedes mal, wenn einer der Passanten anfing sich darüber aufzuregen, „das der Pitbull doch eingeschläfert gehört“, erwiderte der kleine Junge, dass es sich nicht um einen Pitbull handelte, sondern um einen American Staffordshire. Die meisten der Leute gingen kopfschüttelnd weiter, einige meinten, sie würden das Jugendamt informieren.
Jetzt war Momo eingeschläfert. Bestimmt waren diese Leute jetzt froh darüber. Aber warum? Warum seine Momo?
Krebs… Krebs hatte der Tierarzt gesagt. Volker erinnerte sich an seine Mutter, wie sie im Bett gelegen hat. Wie sie geschrieen hat und wie ihr Blut aus allen Öffnungen des Körpers lief. Er war damals sieben gewesen, als er seine Mutter hat sterben sehen.
Nein, Momo sollte so was nicht erleben müssen. Er hat ihr über den Kopf gestreichelt, als der Tierarzt die Spritze ansetzte. Momo…
Er blieb vor dem großen Wohnzimmerfenster stehen, den dampfenden Kakaobecher in der Hand. Es hatte aufgehört zu regnen. Sie hatten Momo direkt unter dem Apfelbaum begraben, den sie so sehr geliebt hat. Momo…
Die Sonne schickte ihre warmen Strahlen auf die Erde, und Licht fiel durch die Blätter des Apfelbaumes auf das kleine Grab. Momo…
Lächelnd betrachtete Volker den Regenbogen, der sich hinter den Hügeln gebildet hatte, und er dachte an die Worte seines Großvaters:
„Wäre es denn ein Himmel – ohne Hunde??“
 
  • 19. Mai 2024
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Hi OrcaJG ... hast du hier schon mal geguckt?
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das ist wunderschön und es gibt so viele viele viele viele Momos
 
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