Wann ist ein Hund gefährlich?
VERFASSUNGSGERICHT / Fast vier Jahre nach Volkans Tod urteilen die Richter in Karlsruhe über Kampfhunde.
SOEST/KARLSRUHE. Selten schlug sich ein einzelner Vorfall so rasch so drakonisch in deutschen Gesetzbüchern nieder: Es geht um den schrecklichen Tod des kleinen Volkan. Der Sechsjährige wurde im Juni 2000 in Hamburg von einem Pitbull und einem Staffordshire-Terrier totgebissen. In den Ländern wurden daraufhin hektisch die Hundehalterverordnungen verschärft, auch der Bund erließ Gesetze, um die Gefahr einzudämmen. Heute nun verkündet das Bundesverfassungsgericht ein Grundsatzurteil zum Thema Kampfhunde. Es geht vor allem um die Frage, ob das Verbot rechtens ist, bestimmte Rassen zu züchten und einzuführen.
Mirko Fischer gehört zu den 53 Menschen, die dieses Verbot für falsch halten und deshalb - ohne Hund - nach Karlsruhe zogen. Fischer kommt aus Soest, er ist von Beruf Diensthundeführer, ein Sohn, drei Hunde. Sein Großvater hat 1963 die Zucht "Von Telgei" gegründet, der rund 100 Tiere entstammen.
Im März 2000 wurde eine 86-Jährige in Gladbeck von einem Rottweiler zu Tode gebissen. Nichts passierte. Dann musste der kleine Volkan in Hamburg sterben, weil ihn Hunde angriffen. Fortan war es vorbei mit der Ruhe. Fischer wurde bisweilen bespuckt und sein Hund getreten, wenn er sich mit einem seiner Bullterrier in der Öffentlichkeit sehen ließ. "Es war für mich ein ziemlich trauriges Erlebnis, zu einer Randgruppe zu gehören", sagt er heute über die damalige Zeit.
Das Problem liegt am anderen Ende der Leine
Seine Zucht ruht immer noch. Inzwischen seien aber immerhin die Passanten beim Gassigehen wieder offener. Sie fragten, was es denn mit der angeblichen Gefahr durch so einen Hund auf sich habe. Fischer gibt immer die gleiche Antwort: "Nie hat es mit einem unserer Hunde Probleme gegeben." Und er verweist darauf, dass seines Wissens auch kein einziger Fall in der Bundesrepublik dokumentiert sei, in dem ein Bullterrier einen Menschen ernsthaft verletzt habe.
Im Kern müssen die Verfassungsrichter über die eine Frage befinden: Lässt sich aus der Gefahr, die möglicherweise von einem Hunde-Individuum ausgeht, gleich auf eine ganze Hunde-Rasse schließen? Nach Meinung des Gesetzgebers funktioniert dies zumindest für Pitbull oder American Staffordshire-Terrier, für Staffordshire-Bullterrier - und eben auch Bullterrier.
Die Bundesregierung hält diese Rassen - unter Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse - für überproportional gefährlich und individuelle Wesenstests für unpraktikabel. Die Gruppe um Fischer argumentiert andersherum: Das Risiko könne nur bei jedem einzelnen Tier festgestellt werden, das von einem Halter geprägt werde. Letztlich gehe die Gefahr also vom Menschen aus. Es gibt einen trickreichen Slogan, mit dem die Beschwerdeführer ihre Position deutlich machen: "Das Problem", predigen sie, "befindet sich an der anderen Seite der Leine."
Ihr Bevollmächtigter, der Rechtsprofessor Jan Ziekow, verwies in der mündlichen Verhandlung am 5. November auf Statistiken, wonach sogar Dackel deutlich häufiger in Schadensfälle verwickelt seien als Bullterrier - ohne allerdings zu erwähnen, welches Tier im Einzelfall den größeren Schaden anrichtet. Überhaupt boten die Freunde des Kampfhundes in der Anhörung ein eindrucksvolles Beispiel effizienter Lobbyarbeit. Der Verband für das Deutsche Hundewesen schickte nicht nur einen Hauptgeschäftsführer, einen ersten Präsidenten und eine Stellvertreterin ins Feld, er bot zudem eine Expertin auf, die die "Vorverurteilung ganzer Rassen" denn auch als willkürlich und wissenschaftlich nicht haltbar bezeichnete.
Der Deutsche Kinderschutzbund dagegen, der etwas zur Perspektive potenzieller Opfer hätte beitragen können, schickte nicht einmal eine Stellungnahme - trotz Aufforderung durch das Gericht.
Ob das Rasse-Argument tragfähig ist, blieb in der mündlichen Verhandlung letztlich offen. "Der Gutachter der Bundesregierung wurde vom Vorsitzenden Dr. Papier gefragt, warum ausgerechnet diese Rassen auf der Verbotsliste stehen", erinnert sich Fischer. "Die Antwort war ein Schulterzucken."
Karlsruhe könnte dem Bund übrigens auch aus ganz anderen Gründen in die Parade fahren: In der Verhandlung wurden Zweifel laut, ob der Bund die Kampfhundegesetze nicht den Ländern überlassen müsste. Zwar ist der Bundesgesetzgeber für den Tierschutz zuständig - doch hier, so merkte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier an, gehe es doch wohl eher um den Schutz von Menschen. (NRZ/dpa)
15.03.2004 MICHAEL MINHOLZ und WOLFGANG JANISCH