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"Schießt mich auch gleich tot"
Zwei Hunde bissen ein Kind tot: Der Prozess gegen die Halter vor dem Hamburger Landgericht setzt dem atavistischen Geschehen eine Anstrengung um Zivilität entgegen. Von Ariane Barth
Alte Geschichten erzählten davon, es geschah aber in Wirklichkeit: Vor Entsetzen ergraute ihr Haar. Sie war erst 29 Jahre alt, diese Mutter von zwei Söhnen, die ihren Jüngsten auf so grausige Weise verlor, dass Wellen der Erschütterung durch die ganz Republik gingen.
Wie konnte geschehen, dass an einem helllichten Sommertag, dem 26. Juni vergangenen Jahres, kurz vor zwölf Uhr, der Junge Volkan Kaya, 6, auf einer Wiese seiner Schule Buddestraße im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg von den Hunden Zeus und Gipsy getötet wurde? Getötet so bestialisch, dass sogar abgehärtete Ärzte in der Gerichtsmedizin erschauerten: das Gesichtchen zerfleischt, die Nase und die Oberlippe im Magen von Zeus, das Köpfchen verunstaltet, die Ohren abgerissen, der Haarschopf und die Augenlider im Magen von Gispy.
Das eisige Grau im dunklen Haar der Mutter Ayfer, es wirkt wie eine stumme Anklage, als sie den abgenutzten, aber noch ehrwürdigen Saal des Hamburger Landgerichts betritt. Auch die rot geweinten Augen des Vaters Kali, 35, geben der Nebenklage Gewicht. Sie müssen gar nichts sagen, allein durch ihren Anblick erzählen die Eltern die Geschichte ihres Schmerzes, den kein Gericht, kein Urteil dieser Welt tilgen kann. Sie sind einfache Leute aus der Türkei, die im Wilhelmsburger Bahnhofsviertel mit über 80 Prozent Ausländern ein bescheidenes auskommen fanden. Er unterhielt seine Familie als Bahnarbeiter, sie verdiente als Putzfrau dazu. Sie konnten nur wenig Deutsch - wozu auch, Türkisch war in ihrer Umgebung die Landessprache.
Es war ein heiterer Morgen, Kali Kaya spielte in einer Teestube Karten, als Sirenengeheul, dann auch Geknall von Schüssen seine Neugier weckten und ihn zur Schule lockten. Sie kamen ihm entgegen und sagten es ihm, und er stürzte in eine Tiefe der Verzweiflung, aus der er bis heute nicht herausfand. Er hörte auf zu arbeiten, er hockte nur noch da und grübelte. "Apathisch, als wäre das Leben aus ihm gewichen, als würde er langsam verrückt", so kommt er seinem Anwalt Thomas Hansen-Siedler vor, der mit Feinfühligkeit die Nebenklage vertritt.
Angestrengt bemüht der Vater sich um Fassung, die Mutter lässt ihre Tränen fließen. Die Emotionen und Erinnerungen, die der erste Prozesstag bei ihnen auslöst, sind so heftig, dass sie an der schwierigen Wahrheitsfindung nicht mehr teilhaben wollen.
Bemerkenswert ist die Atmosphäre, die der Vorsitzende Richter des Jugendschwurgerichts, Egbert Walk, 53, nicht nur durch seine sonore Stimme erzeugt. Unter seiner Vorgabe wirken alle mit in dem Bemühen, dem gruasigen Stoff einen moderaten, geradezu humanen Ton entgegenzusetzen. Es ist, als erfordere der geschehene Atavismus ein Höchstmaß an Zivilität zu seiner Bewältigung.
Kein geifernder Ankläger, sonder der dezent nachfragende Staatsanwalt Harald Allerbeck, 54, im Übrigen ein Hundefreund. Keine Staranwälte, die das Gericht als Bühne für dramatische Selbstinszenierungen missbrauchen. Der Halter von Zeus, Ibrahim, geannt Ibo, Külünk, 24, angeklagt wegen Körperverletzung mit Todesfolge (Höchststrafe: 15 Jahre Gefängnis), gewann durch einen Brief aus der Untersuchungshaft den unter jungen Türken als sozial engagiert geltenden Anwalt Michael Wulff, 39, der seinem Mandanten im Kleidungsstil nicht unähnlich ist, wenn er mit Jeans und Lederjacke daherkommt. Die Eigentümerin von Gipsy, Silja W., 19, angeklagt wegen fahrlässiger Tötung (hächststrafe: 5 Jahre Gefängnis), fand in ihrem Pflichtverteidiger Ronald Westphal, 52, einen väterlichen Beistand, der sich in anrührender Weise um sie kümmert.
Ibo und Silja waren ein hübsches Vorstadtpärchen, Gegensätze, die sich anzogen, er, der männliche Stärke ausstrahlte, sie, die schmückende Kindfrau mit langem rotbraunem Haar, zart, klein. Seit ihre Hunde töteten, sind sie gebrochene junge Menschen. Ibo kämpft jede Nacht in der Zelle gegen die grauenhaften Bilder. Eine Psychologin hilft ihm bei der Bewältigung des Traumas. So schafft er es, seiner männlichen Rolle vor Gericht einigermaßen zu genügen. Bemüht um Sachlichkeit, fasst er, der fließend Deutsch wie Türkisch spricht, das furchtbare Geschehen in klare Sätze. Nur in winzigen Momenten, in denen die Fassung wegbricht, offenbart sich seine ungeheure Anstrengung, dem Selbstbild des coolen Türken zu genügen.
Zwei Särge, so hieß es in einem Drohbrief an die Wilhelmsburger Revierwache, sollten bereitsgestellt werden. Im Schutz der Nacht, abgeschirmt von der Polizei, zog Silja mit ihrer deutschen Familie aus dem Ausländergebiet fort, in eine andere, kleine Stadt. Eine Psychologin und eine Sozialpädagogin der Jugendgerichtshilfe bewahrten die selbstmordgefährdete junge Frau davor, ihr Leben wegzuwerfen.
Die Angeklagte wirkt wie ein Schatten ihrer selbst, dunkel gekleidet wie für ein Begräbnis, fahl ihr Gesciht, verquollen vom vielen Weinen. Sie haucht ihre Antworten wie ein kleines Mädchen in oft unvollständigen Sätzen, sagt immer wieder "Ich weiß nicht" und erinnert sich an nichts, das ihren noch immer geliebten Ibo belasten könnte. Sich selbst schützt sie nicht. "Ich habe mich fahrlässig verhalten", liest sie ab von einem Blatt, an dem sie sich festhalten kann: "Deshalb bin ich mitverantwortlich dafür, dass der Junge Volkan jetzt tot ist." Ihr tue "unendlich Leid", was für Schmerzen seine Eltern durchmachen müssten.
Warum sie keinen Kontakt zur Familie des Opfers aufgenommen habe, will Richter Walk wissen. "Ich habe nicht das Recht, um Verzeihung zu bitten", schluchzt sie: "Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich das machen soll." Unter Tränen sagt sie den Eltern: "Ich fühle die Schuld."
Bis zur Stunde, in der Volkan starb, lebte das junge Paar in den Tag hinein. Die beiden wirkten ein bisschen wie bonnie und clyde. Zwar beherrschten sie den rotzfrechen Ton der straße, aber entgegen manchen Verdächtigungen waren sie kein aufstrebendes Gangsterpärchen, sonst hätten sie es wohl zu etwas mehr gebracht, als zu einer schäbigen Wohnung in der Buddestraße, einem einst schön im Jugendstil gebauten Block, aber verkommen und verdreckt zum schlimmsten Slum des Bahnhofsviertels. Wieso eigentlich duldete die Kommune einen derart asozialen Block direkt neben der Buddestraße?
Durch Gelegenheitsarbeit auf dem Bau sicherte Ibo für sich und seine Freundin eine karge Existenz. Mit seiner Intelligenz hätte er nach dem Urteil seiner Grundschullehrer das Gymnasium schaffen können, aber daraus wurde nichts: Statt Unterstütuzung aus seiner Familie zu erfahren, wurde er mit fürchterlichen Prügeln zur Anpassung an die Normen der türkischen Unterschicht gezwungen, eine Enge, aus der er hinausmusste, aber wohin?
Das ist in Wilhelmsburg ein typisches Schicksal begabter junger Türken der zweiten Generation. Die soziale Ignoranz, an der die deutsche Seite durch Wegschauen durchaus mitschuldig ist, läuft auf eine Art Zucht von Nachwuchs für die türkische Unterwelt hinaus.
So weit, so fix und fertig mit der legalen Welt war Ibo nicht. Aber er hatte bereits eien Waffe, die der Polizei in die Hände fiel, eben weil er noch kein Profi war.
Natürlich war der Rüde mit dem göttlichen Namen Zeus, halb Pitbull, halb American Staffordshire, wie geschaffen als Alter Ego für einen Typen, der hin- und hertaumelte zwischen seiner Befähigung und seiner Marginalisierung. So ein kraftvoller Hund hob die Stärke des jungen Mannes und betonte seine Position in der Clique.
Dass Zeus für andere Hunde gefährlich war, wusste Ibo seit 1998. Nach einer Beißerei musste er mit seinem Hund zum Amtstierarzt. Dem fiel nicht auf, dass Zeus auch für Menschen gefährlich werden könnte, und so machte sich sein Herrchen darüber auch keine Sorgen.
"Zeus freute sich, wenn Menschen auf ihn zukamen", so jedenfalls sagt Silja. Im Bahnhofsviertel gab es Kinder, die ihn gern streichelten, aber auch andere, die als Mutprobe gegen ihre Angst eine Berührung wagten. Zeus ließ das geschehen. Auf Umgang mit Kindern hätte er bei der Erziehung seines Hundes, so betont Ibo, "Wert gelegt".
Das Verhängnis nahm seinen Lauf, als Silja im Frühjahr 1999 einen putzigen Welpen geschenkt bekam, "eine Mischung aus Pitbull und American Staffordshire, und ich glaube, ein bisschen Bullterrier": drei Rassen, deren Einfuhr und Zucht ein neues Bundesgesetzt verbieten soll.
Sie behandelte die kleine Hndin "wie mein Baby". Gipsy schlief in ihrem Bett, bis sie zu groß wurde. Dann durfte sie aber beim Fernsehen auf dem Sofa sitzen. Wenn sie nicht gehorchte, wandte Frauchen ein merkwürdiges Erziehungsmittel an: "Ich biss ihr ins Ohr."
Ja doch, sie weiß längst, sie hätte so einen Hund nicht halten dürfen: "Ich war einfach dumm." Was sie denn falsch gemacht hätte, will Richter Walk wissen: "Alles", sagt sie.
War das, was das Pärchen als "Spiel" mit den Hunden trieb, ein Aggressionstraining? Unwissentlich? Beabsichtigt? Wurde die Beißkraft der Tiere systematsich durch Aufhängen an Schaukeln oder Seilen gefördert? Das sind Schlüsselfragen, die der Prozess beantworten soll, aber womöglich nicht klären kann. Da war viel Gerede im Bahnhofsviertel, aber wenig Augenschein.
Dem Gerücht, dass die Tiere an Hundekämpfen teilgenommen hätten, widerspricht der Sektionsbefund: Deren Fell wies keinerlei Narben auf. Martialisch mutet allerdings an, dass Zeus öfter eine 4,6 Kilogramm schwere Eisenkette tragen musste, um durch Stärkung der Nackenmuskulatur seine "Schönheit" zu heben, wie Ibo sagt.
Auf jeden Fall verketteten sich verschiedene Spielmuster in fataler Weise, Herrchen und Frauchen tummelten sich mit ihren Hunden auf der Schulwiese, "aber nur an Wochenenden und in den Ferien", wie Silja versichert. Zeus konnte nach einem Stock hoch bis zu Ibos Kopf springen, glatt 1,75 Meter. Silja war "fasziniert", wenn ihre Gipsy mit kurzem Anlauf einen bestimmten Baum auf dem Schulgelände erkletterte und eine 1,80 Meter hohe Astgabel erreichte. Schlimm sollte sich auch auswirken, dass die Tiere närrisch nach Bällen waren.
Als Gipsy läufig war, attackierte Zeus im Verlauf von nur acht Tagen unvermittelt einen Labrador-Mischling, einen Beagle sowie einen Schäferhund und biss überwiegend in deren Köpfe. Das war im April vorigen Jahres.
Von Amts wegen wurde dem Halter auferlegt, Zeus nur noch mit Maulkorb und an der Leine auszuführen sowie keinen zweiten Hund mitzunehmen. Einen Beißschutz, der über Zeus voluminöse Schnauze passte, fand er in einem Laden: "Der sah auch gut aus", was Ibo wichtig war, aber die 160 Mark hätte er gerade nicht gehabt.
Dann kam der verhängnisvolle 11. Mai. Silja sollte als zeugin aussagen, aber die an die elterliche Adresse gerichtete Ladung erreichte sie nicht, weil sie längst bei Ibo wohnte. Polizisten holten sie an der Buddestraße frühmorgens aus dem Bett. Als sie ihre Tasche nicht holen durfte, biss sie einem Beamten in die Hand, der schlug ihr mit einer Taschenlampe auf den Kopf. Aus der Platzwunde tropfte Blut in die Wohnung. die in einem Nebenzimmer eingesperrten Hunde waren durch den Geruch und die ungewöhnlichen Geräusche hoch erregt. Siljas Wunde wurde genäht. Als sie danach die Hunde ausführte, fiel Gipsy das auf einer Banklehne sitzende Mädchen Bahar, 12, an, riss es zu Boden und biss ihm in den Arm, während Zeus unbeteiligt dabeistand. Silja zerrte ihren Hund von dem Mädchen weg. Sie wäre, sie sie sagt, "erschrocken und enttäuscht" gewesen.
Dass die Hündin im Zusammenwirken der beiden Hunde die aggressivere war, hätte sie schon seit einiger Zeit beunruhigt, und so hätte sie noch am selben Tag in einem Gespräch mit Ibo erwogen, Gipsy erschießen zu lassen. Ibo hätte auf die außergewöhnliche Erregung verwiesen, aber gesagt, es sei ihre Hündin und ihre Entscheidung. Sie hätte sich "leider falsch entschieden", sagt sie. Aber wie hätte sie sich denn trennen können von ihrem "Baby" und ihm ein Leid antun?
Ihre Mutter kaufte einen Maulkorb aus Stoff, den Gipsy, als er irgendwo herumlag, zerkaute. Es war "zu viel passiert", wie Ibo sagt, und so stellt das Paar seine ausgedehnten Spaziergänge mit den beiden Hunden ein. Dass sie ständig unter Reizarmut in der Wohnung hockten, war nicht artgerecht, wie ihre Halter sehr wohl wussten.
Alle Zeichen, die längst da waren, aber von dem Pärchen verdrängt wurden, potenzierten sich zum Desaster des 26. Juni. Sie bekamen an die 70 Mark Schulden zurückgezahlt und wollten Essensvorräte einfaufen. Silja, die gewöhnlich bis zum Mittag schlief, war gerade aufgestanden. Sie suchte, aber fand Gipsys Halsband nicht und wickelte ihr nur die Leine um. Während sie sich anzog, wollte Ibo schnell mit den Hunden ihr Morgengeschäft erledigen.
Als sie auf dem Hinterhof der Buddestraße ankamen, drang vom Schulhof nebenan der Lärm der großen Pause. Wusste Ibo, dass sein kleiner Freund Mahmut, 18, wie er aussagt, mit den Hunden des öfteren geübt hatte, die 1,40 bis 1,60 Meter hohe Mauer des Hinterhofs zu überspringen, indem er stöcke und Bälle darüber warf?
Auf jeden Fall hätte er sich ausrechnen können, dass die Hunde fähig waren, so eine Höhe zu überwinden. Als Gipsy zu ihrem Geschäft ansetzte, machte Ibo sie los. Von nebenan kamen aufregende Signale. Samet, 15, schoss seinen Ball gegen einen Zaun zum Hinterhof. Ein anderer Junge spielte mit Volkan Fußball, hoch durch die Luft.
Mit einem Mal sah Ibo Gipsy auf der Mauer stehen. Er setzte der Hündin nach. Sie lief, wie mehrere von Richter Walk sehr vorsichtig befragte Kinder aussagten, die direkt auf Volkan zu, denn er hatte gerade den gelben Ball. Schreiend flüchtete der Junge, aber die Hündin holte ihn ein, warf ihn um und biss in seinen Kpf. Dabei könnte sich nach Ansicht der Kieler Hundeverhaltensforscherin Dorit Feddersen-Petersen vom Ball zum Kind ein "umadressiertes Beutefangverhalten" entwickelt haben, wie es typisch für "gestörte Hunde" sei.
Beim ersten Angriff verlor Volkan seine Brille, rappelte sich auf und versuchte erneut wegzulaufen. Aber Gipsy bekam ihn wieder zu fassen. Als Ibo ankam, "hatte der Junge", wie er sagt, "noch keine so großen Verletzungen". Er kämpfte den Kampf seines Lebens, den er seither jede Nacht wieder verliert, zuerst gegen Gipsy: "Ich habe ihr mit den Händen das Maul aufgerissen und sie zurückgeworfen."
Zeus, der zuerst auf den Schüler Samet mit dem Ball zugelaufen war, ihm aber nichts getan hatte, erreichte den Kampfplatz. Zwischen den beiden Tieren muss geschehen sein, was die Gutachterin Feddersen-Petersen eine Stimmungsübertragung" nennt. Ibo konnte Zeus ergreifen: "Ich warf ihn auch weg, dann kam Gipsy zurück, und es ging dann immer hin und her, und sie bissen immer wieder, immer in den Kopfbereich."
Nachdem er den Hunden fünfmal die Mäuler aufgerissen und sie nach hinten geschmissen hätte, sei ihm gelungen, das schreiende Kind aufzuheben und auf den Arm zu nehmen. Aber die Hunde hätten ihn angesprungen und mit ihrem Gewicht, Zeus 37 Kilo, Gipsy 26 Kilo, zu Fall gebracht: "Ich habe versucht, den Jungen mit meinem Körper abzudecken. Aber ich habe das nicht geschafft. Das ging nicht. Ich war kraftlos." So bissen die Hunde weiter in Volkans Kopf. Es sei ihm "wie eine Ewigkeit" vorgekommen.
Während das alles geschah, hilet eine archaische Schaulust ein Knäuel von annähernd hundert Kindern gefangen. Die Lehrerin Silke Bäcker versuchte, die Schüler "zu verscheuchen", wie sie sich als Zeugin ausdrückt, aber die Kinder seien immer wieder an ihr vorbei zu dem grausigen Schauplatz geschlüpft.
Die Schülerin Sabahat, 13, alarmierte über ihr Handy die Polizei. Sie hätte, wie sie aussagt, einen Lehrer um Hilfe für Volkan angefleht, aber der hätte gesagt: "Ich kann doch mein Leben nicht riskieren."
Die Schrei um Hilfe alarmierten den Türken Hüseyin Aydogdu, 33, einen selbständigen Baufachmann, der sich am Kiosk vor der Schule mit einem Kollegen verabredet hatte. Er stürmte auf die Wiese bis zu den Hunden. Vor Angst schreckte er für ein paar Sekunden zurück. Dann aber sah er das Kind unter dem Mann, und er sah noch mehr: "Die Hunde waren fixiert auf den Kleinen, ab er die waren nicht aggressiv, die haben das genossen." Bei wölfen wie bei Hunden, so weiß die Expertin Feddersen-Petersen, "ist das Beutefangverhalten, Hinterherjagen, Packen, Töten, ausgesprochen lustbetont".
Der Schlosser Dragan Juric, 29, ein Bosnier, der bei einem Umzug an der Buddestraße half, kam von der anderen Seite angerannt und zerrte, ohne eine Sekunde zu zögern, Zeus am halsband zurück. Er klemmte sich den Hund zwischen die Beine: "Nein, der versuchte nicht zu beißen, der versuchte nur, sich rauszureißen." Animiert durch die mutige Tat, packte Aydogdu Gipsy und hielt sie fest.
Der Blick von Volkans Augen aus seinem versehrten Gesicht schockte die beiden Helden. Juric verlor die Beherrschung: "Ich habe rumgeschrien, warum keiner was tut." Er hob Zeus' Leine vom Boden auf und schlug mit dem Karabinerhaken wie besinnungslos auf den Rüden ein.
Wie eingebrannt sind vor Aydogdus inneren Augen "die drei Erwachsenen, die nur zugeguckt haben". Die Schule müsse doch voll von Lehrern und voll von Stühlen gewesen sein, er könne bis heute nicht verstehen, warum in den zehn Minuten von volkans Todeskampf nichts geschah: "Die meiste Schuld habne die Lehrer, die wollten nichts riskieren."
Als die Polizei kam, war auch Silja, von Kindern geholt, auf der Schulwiese. Sie schrie die Beamten an, si esollten doch endlich schießen. Ibo, der mit seinen blutenden Händen Zeus wieder unte rKontrolle hielt, ließ ihn los und rief: "Schießt mich nur auch gleich tot."
Die Polizisten brauchten für Zeus und Gipsy 18 Kugeln.
Nach Volkans Tod wurden in vielen Bundesländern neue Hundeverordnungen erlassen und alte verschärft. Die Spaltung der Gesellschaft in Leute mit großen Hunden und Leute mit kleinen Kindern oder kleinen Hunden vertiefte sich. Erbitterung auf beiden Seiten erzeugte einen Druck der Straße, aber Erwartungen harter Strafen wird dsa Gericht wohl nicht erfüllen, wenn es Mitte Januar sein Urteil fällt. Siljas "Baby" und Ibos Alter Ego sind doch längst tot.
Marion, Tau & Tiptoe
[Dieser Beitrag wurde von Marion am 31. Dezember 2000 editiert.]
"Schießt mich auch gleich tot"
Zwei Hunde bissen ein Kind tot: Der Prozess gegen die Halter vor dem Hamburger Landgericht setzt dem atavistischen Geschehen eine Anstrengung um Zivilität entgegen. Von Ariane Barth
Alte Geschichten erzählten davon, es geschah aber in Wirklichkeit: Vor Entsetzen ergraute ihr Haar. Sie war erst 29 Jahre alt, diese Mutter von zwei Söhnen, die ihren Jüngsten auf so grausige Weise verlor, dass Wellen der Erschütterung durch die ganz Republik gingen.
Wie konnte geschehen, dass an einem helllichten Sommertag, dem 26. Juni vergangenen Jahres, kurz vor zwölf Uhr, der Junge Volkan Kaya, 6, auf einer Wiese seiner Schule Buddestraße im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg von den Hunden Zeus und Gipsy getötet wurde? Getötet so bestialisch, dass sogar abgehärtete Ärzte in der Gerichtsmedizin erschauerten: das Gesichtchen zerfleischt, die Nase und die Oberlippe im Magen von Zeus, das Köpfchen verunstaltet, die Ohren abgerissen, der Haarschopf und die Augenlider im Magen von Gispy.
Das eisige Grau im dunklen Haar der Mutter Ayfer, es wirkt wie eine stumme Anklage, als sie den abgenutzten, aber noch ehrwürdigen Saal des Hamburger Landgerichts betritt. Auch die rot geweinten Augen des Vaters Kali, 35, geben der Nebenklage Gewicht. Sie müssen gar nichts sagen, allein durch ihren Anblick erzählen die Eltern die Geschichte ihres Schmerzes, den kein Gericht, kein Urteil dieser Welt tilgen kann. Sie sind einfache Leute aus der Türkei, die im Wilhelmsburger Bahnhofsviertel mit über 80 Prozent Ausländern ein bescheidenes auskommen fanden. Er unterhielt seine Familie als Bahnarbeiter, sie verdiente als Putzfrau dazu. Sie konnten nur wenig Deutsch - wozu auch, Türkisch war in ihrer Umgebung die Landessprache.
Es war ein heiterer Morgen, Kali Kaya spielte in einer Teestube Karten, als Sirenengeheul, dann auch Geknall von Schüssen seine Neugier weckten und ihn zur Schule lockten. Sie kamen ihm entgegen und sagten es ihm, und er stürzte in eine Tiefe der Verzweiflung, aus der er bis heute nicht herausfand. Er hörte auf zu arbeiten, er hockte nur noch da und grübelte. "Apathisch, als wäre das Leben aus ihm gewichen, als würde er langsam verrückt", so kommt er seinem Anwalt Thomas Hansen-Siedler vor, der mit Feinfühligkeit die Nebenklage vertritt.
Angestrengt bemüht der Vater sich um Fassung, die Mutter lässt ihre Tränen fließen. Die Emotionen und Erinnerungen, die der erste Prozesstag bei ihnen auslöst, sind so heftig, dass sie an der schwierigen Wahrheitsfindung nicht mehr teilhaben wollen.
Bemerkenswert ist die Atmosphäre, die der Vorsitzende Richter des Jugendschwurgerichts, Egbert Walk, 53, nicht nur durch seine sonore Stimme erzeugt. Unter seiner Vorgabe wirken alle mit in dem Bemühen, dem gruasigen Stoff einen moderaten, geradezu humanen Ton entgegenzusetzen. Es ist, als erfordere der geschehene Atavismus ein Höchstmaß an Zivilität zu seiner Bewältigung.
Kein geifernder Ankläger, sonder der dezent nachfragende Staatsanwalt Harald Allerbeck, 54, im Übrigen ein Hundefreund. Keine Staranwälte, die das Gericht als Bühne für dramatische Selbstinszenierungen missbrauchen. Der Halter von Zeus, Ibrahim, geannt Ibo, Külünk, 24, angeklagt wegen Körperverletzung mit Todesfolge (Höchststrafe: 15 Jahre Gefängnis), gewann durch einen Brief aus der Untersuchungshaft den unter jungen Türken als sozial engagiert geltenden Anwalt Michael Wulff, 39, der seinem Mandanten im Kleidungsstil nicht unähnlich ist, wenn er mit Jeans und Lederjacke daherkommt. Die Eigentümerin von Gipsy, Silja W., 19, angeklagt wegen fahrlässiger Tötung (hächststrafe: 5 Jahre Gefängnis), fand in ihrem Pflichtverteidiger Ronald Westphal, 52, einen väterlichen Beistand, der sich in anrührender Weise um sie kümmert.
Ibo und Silja waren ein hübsches Vorstadtpärchen, Gegensätze, die sich anzogen, er, der männliche Stärke ausstrahlte, sie, die schmückende Kindfrau mit langem rotbraunem Haar, zart, klein. Seit ihre Hunde töteten, sind sie gebrochene junge Menschen. Ibo kämpft jede Nacht in der Zelle gegen die grauenhaften Bilder. Eine Psychologin hilft ihm bei der Bewältigung des Traumas. So schafft er es, seiner männlichen Rolle vor Gericht einigermaßen zu genügen. Bemüht um Sachlichkeit, fasst er, der fließend Deutsch wie Türkisch spricht, das furchtbare Geschehen in klare Sätze. Nur in winzigen Momenten, in denen die Fassung wegbricht, offenbart sich seine ungeheure Anstrengung, dem Selbstbild des coolen Türken zu genügen.
Zwei Särge, so hieß es in einem Drohbrief an die Wilhelmsburger Revierwache, sollten bereitsgestellt werden. Im Schutz der Nacht, abgeschirmt von der Polizei, zog Silja mit ihrer deutschen Familie aus dem Ausländergebiet fort, in eine andere, kleine Stadt. Eine Psychologin und eine Sozialpädagogin der Jugendgerichtshilfe bewahrten die selbstmordgefährdete junge Frau davor, ihr Leben wegzuwerfen.
Die Angeklagte wirkt wie ein Schatten ihrer selbst, dunkel gekleidet wie für ein Begräbnis, fahl ihr Gesciht, verquollen vom vielen Weinen. Sie haucht ihre Antworten wie ein kleines Mädchen in oft unvollständigen Sätzen, sagt immer wieder "Ich weiß nicht" und erinnert sich an nichts, das ihren noch immer geliebten Ibo belasten könnte. Sich selbst schützt sie nicht. "Ich habe mich fahrlässig verhalten", liest sie ab von einem Blatt, an dem sie sich festhalten kann: "Deshalb bin ich mitverantwortlich dafür, dass der Junge Volkan jetzt tot ist." Ihr tue "unendlich Leid", was für Schmerzen seine Eltern durchmachen müssten.
Warum sie keinen Kontakt zur Familie des Opfers aufgenommen habe, will Richter Walk wissen. "Ich habe nicht das Recht, um Verzeihung zu bitten", schluchzt sie: "Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich das machen soll." Unter Tränen sagt sie den Eltern: "Ich fühle die Schuld."
Bis zur Stunde, in der Volkan starb, lebte das junge Paar in den Tag hinein. Die beiden wirkten ein bisschen wie bonnie und clyde. Zwar beherrschten sie den rotzfrechen Ton der straße, aber entgegen manchen Verdächtigungen waren sie kein aufstrebendes Gangsterpärchen, sonst hätten sie es wohl zu etwas mehr gebracht, als zu einer schäbigen Wohnung in der Buddestraße, einem einst schön im Jugendstil gebauten Block, aber verkommen und verdreckt zum schlimmsten Slum des Bahnhofsviertels. Wieso eigentlich duldete die Kommune einen derart asozialen Block direkt neben der Buddestraße?
Durch Gelegenheitsarbeit auf dem Bau sicherte Ibo für sich und seine Freundin eine karge Existenz. Mit seiner Intelligenz hätte er nach dem Urteil seiner Grundschullehrer das Gymnasium schaffen können, aber daraus wurde nichts: Statt Unterstütuzung aus seiner Familie zu erfahren, wurde er mit fürchterlichen Prügeln zur Anpassung an die Normen der türkischen Unterschicht gezwungen, eine Enge, aus der er hinausmusste, aber wohin?
Das ist in Wilhelmsburg ein typisches Schicksal begabter junger Türken der zweiten Generation. Die soziale Ignoranz, an der die deutsche Seite durch Wegschauen durchaus mitschuldig ist, läuft auf eine Art Zucht von Nachwuchs für die türkische Unterwelt hinaus.
So weit, so fix und fertig mit der legalen Welt war Ibo nicht. Aber er hatte bereits eien Waffe, die der Polizei in die Hände fiel, eben weil er noch kein Profi war.
Natürlich war der Rüde mit dem göttlichen Namen Zeus, halb Pitbull, halb American Staffordshire, wie geschaffen als Alter Ego für einen Typen, der hin- und hertaumelte zwischen seiner Befähigung und seiner Marginalisierung. So ein kraftvoller Hund hob die Stärke des jungen Mannes und betonte seine Position in der Clique.
Dass Zeus für andere Hunde gefährlich war, wusste Ibo seit 1998. Nach einer Beißerei musste er mit seinem Hund zum Amtstierarzt. Dem fiel nicht auf, dass Zeus auch für Menschen gefährlich werden könnte, und so machte sich sein Herrchen darüber auch keine Sorgen.
"Zeus freute sich, wenn Menschen auf ihn zukamen", so jedenfalls sagt Silja. Im Bahnhofsviertel gab es Kinder, die ihn gern streichelten, aber auch andere, die als Mutprobe gegen ihre Angst eine Berührung wagten. Zeus ließ das geschehen. Auf Umgang mit Kindern hätte er bei der Erziehung seines Hundes, so betont Ibo, "Wert gelegt".
Das Verhängnis nahm seinen Lauf, als Silja im Frühjahr 1999 einen putzigen Welpen geschenkt bekam, "eine Mischung aus Pitbull und American Staffordshire, und ich glaube, ein bisschen Bullterrier": drei Rassen, deren Einfuhr und Zucht ein neues Bundesgesetzt verbieten soll.
Sie behandelte die kleine Hndin "wie mein Baby". Gipsy schlief in ihrem Bett, bis sie zu groß wurde. Dann durfte sie aber beim Fernsehen auf dem Sofa sitzen. Wenn sie nicht gehorchte, wandte Frauchen ein merkwürdiges Erziehungsmittel an: "Ich biss ihr ins Ohr."
Ja doch, sie weiß längst, sie hätte so einen Hund nicht halten dürfen: "Ich war einfach dumm." Was sie denn falsch gemacht hätte, will Richter Walk wissen: "Alles", sagt sie.
War das, was das Pärchen als "Spiel" mit den Hunden trieb, ein Aggressionstraining? Unwissentlich? Beabsichtigt? Wurde die Beißkraft der Tiere systematsich durch Aufhängen an Schaukeln oder Seilen gefördert? Das sind Schlüsselfragen, die der Prozess beantworten soll, aber womöglich nicht klären kann. Da war viel Gerede im Bahnhofsviertel, aber wenig Augenschein.
Dem Gerücht, dass die Tiere an Hundekämpfen teilgenommen hätten, widerspricht der Sektionsbefund: Deren Fell wies keinerlei Narben auf. Martialisch mutet allerdings an, dass Zeus öfter eine 4,6 Kilogramm schwere Eisenkette tragen musste, um durch Stärkung der Nackenmuskulatur seine "Schönheit" zu heben, wie Ibo sagt.
Auf jeden Fall verketteten sich verschiedene Spielmuster in fataler Weise, Herrchen und Frauchen tummelten sich mit ihren Hunden auf der Schulwiese, "aber nur an Wochenenden und in den Ferien", wie Silja versichert. Zeus konnte nach einem Stock hoch bis zu Ibos Kopf springen, glatt 1,75 Meter. Silja war "fasziniert", wenn ihre Gipsy mit kurzem Anlauf einen bestimmten Baum auf dem Schulgelände erkletterte und eine 1,80 Meter hohe Astgabel erreichte. Schlimm sollte sich auch auswirken, dass die Tiere närrisch nach Bällen waren.
Als Gipsy läufig war, attackierte Zeus im Verlauf von nur acht Tagen unvermittelt einen Labrador-Mischling, einen Beagle sowie einen Schäferhund und biss überwiegend in deren Köpfe. Das war im April vorigen Jahres.
Von Amts wegen wurde dem Halter auferlegt, Zeus nur noch mit Maulkorb und an der Leine auszuführen sowie keinen zweiten Hund mitzunehmen. Einen Beißschutz, der über Zeus voluminöse Schnauze passte, fand er in einem Laden: "Der sah auch gut aus", was Ibo wichtig war, aber die 160 Mark hätte er gerade nicht gehabt.
Dann kam der verhängnisvolle 11. Mai. Silja sollte als zeugin aussagen, aber die an die elterliche Adresse gerichtete Ladung erreichte sie nicht, weil sie längst bei Ibo wohnte. Polizisten holten sie an der Buddestraße frühmorgens aus dem Bett. Als sie ihre Tasche nicht holen durfte, biss sie einem Beamten in die Hand, der schlug ihr mit einer Taschenlampe auf den Kopf. Aus der Platzwunde tropfte Blut in die Wohnung. die in einem Nebenzimmer eingesperrten Hunde waren durch den Geruch und die ungewöhnlichen Geräusche hoch erregt. Siljas Wunde wurde genäht. Als sie danach die Hunde ausführte, fiel Gipsy das auf einer Banklehne sitzende Mädchen Bahar, 12, an, riss es zu Boden und biss ihm in den Arm, während Zeus unbeteiligt dabeistand. Silja zerrte ihren Hund von dem Mädchen weg. Sie wäre, sie sie sagt, "erschrocken und enttäuscht" gewesen.
Dass die Hündin im Zusammenwirken der beiden Hunde die aggressivere war, hätte sie schon seit einiger Zeit beunruhigt, und so hätte sie noch am selben Tag in einem Gespräch mit Ibo erwogen, Gipsy erschießen zu lassen. Ibo hätte auf die außergewöhnliche Erregung verwiesen, aber gesagt, es sei ihre Hündin und ihre Entscheidung. Sie hätte sich "leider falsch entschieden", sagt sie. Aber wie hätte sie sich denn trennen können von ihrem "Baby" und ihm ein Leid antun?
Ihre Mutter kaufte einen Maulkorb aus Stoff, den Gipsy, als er irgendwo herumlag, zerkaute. Es war "zu viel passiert", wie Ibo sagt, und so stellt das Paar seine ausgedehnten Spaziergänge mit den beiden Hunden ein. Dass sie ständig unter Reizarmut in der Wohnung hockten, war nicht artgerecht, wie ihre Halter sehr wohl wussten.
Alle Zeichen, die längst da waren, aber von dem Pärchen verdrängt wurden, potenzierten sich zum Desaster des 26. Juni. Sie bekamen an die 70 Mark Schulden zurückgezahlt und wollten Essensvorräte einfaufen. Silja, die gewöhnlich bis zum Mittag schlief, war gerade aufgestanden. Sie suchte, aber fand Gipsys Halsband nicht und wickelte ihr nur die Leine um. Während sie sich anzog, wollte Ibo schnell mit den Hunden ihr Morgengeschäft erledigen.
Als sie auf dem Hinterhof der Buddestraße ankamen, drang vom Schulhof nebenan der Lärm der großen Pause. Wusste Ibo, dass sein kleiner Freund Mahmut, 18, wie er aussagt, mit den Hunden des öfteren geübt hatte, die 1,40 bis 1,60 Meter hohe Mauer des Hinterhofs zu überspringen, indem er stöcke und Bälle darüber warf?
Auf jeden Fall hätte er sich ausrechnen können, dass die Hunde fähig waren, so eine Höhe zu überwinden. Als Gipsy zu ihrem Geschäft ansetzte, machte Ibo sie los. Von nebenan kamen aufregende Signale. Samet, 15, schoss seinen Ball gegen einen Zaun zum Hinterhof. Ein anderer Junge spielte mit Volkan Fußball, hoch durch die Luft.
Mit einem Mal sah Ibo Gipsy auf der Mauer stehen. Er setzte der Hündin nach. Sie lief, wie mehrere von Richter Walk sehr vorsichtig befragte Kinder aussagten, die direkt auf Volkan zu, denn er hatte gerade den gelben Ball. Schreiend flüchtete der Junge, aber die Hündin holte ihn ein, warf ihn um und biss in seinen Kpf. Dabei könnte sich nach Ansicht der Kieler Hundeverhaltensforscherin Dorit Feddersen-Petersen vom Ball zum Kind ein "umadressiertes Beutefangverhalten" entwickelt haben, wie es typisch für "gestörte Hunde" sei.
Beim ersten Angriff verlor Volkan seine Brille, rappelte sich auf und versuchte erneut wegzulaufen. Aber Gipsy bekam ihn wieder zu fassen. Als Ibo ankam, "hatte der Junge", wie er sagt, "noch keine so großen Verletzungen". Er kämpfte den Kampf seines Lebens, den er seither jede Nacht wieder verliert, zuerst gegen Gipsy: "Ich habe ihr mit den Händen das Maul aufgerissen und sie zurückgeworfen."
Zeus, der zuerst auf den Schüler Samet mit dem Ball zugelaufen war, ihm aber nichts getan hatte, erreichte den Kampfplatz. Zwischen den beiden Tieren muss geschehen sein, was die Gutachterin Feddersen-Petersen eine Stimmungsübertragung" nennt. Ibo konnte Zeus ergreifen: "Ich warf ihn auch weg, dann kam Gipsy zurück, und es ging dann immer hin und her, und sie bissen immer wieder, immer in den Kopfbereich."
Nachdem er den Hunden fünfmal die Mäuler aufgerissen und sie nach hinten geschmissen hätte, sei ihm gelungen, das schreiende Kind aufzuheben und auf den Arm zu nehmen. Aber die Hunde hätten ihn angesprungen und mit ihrem Gewicht, Zeus 37 Kilo, Gipsy 26 Kilo, zu Fall gebracht: "Ich habe versucht, den Jungen mit meinem Körper abzudecken. Aber ich habe das nicht geschafft. Das ging nicht. Ich war kraftlos." So bissen die Hunde weiter in Volkans Kopf. Es sei ihm "wie eine Ewigkeit" vorgekommen.
Während das alles geschah, hilet eine archaische Schaulust ein Knäuel von annähernd hundert Kindern gefangen. Die Lehrerin Silke Bäcker versuchte, die Schüler "zu verscheuchen", wie sie sich als Zeugin ausdrückt, aber die Kinder seien immer wieder an ihr vorbei zu dem grausigen Schauplatz geschlüpft.
Die Schülerin Sabahat, 13, alarmierte über ihr Handy die Polizei. Sie hätte, wie sie aussagt, einen Lehrer um Hilfe für Volkan angefleht, aber der hätte gesagt: "Ich kann doch mein Leben nicht riskieren."
Die Schrei um Hilfe alarmierten den Türken Hüseyin Aydogdu, 33, einen selbständigen Baufachmann, der sich am Kiosk vor der Schule mit einem Kollegen verabredet hatte. Er stürmte auf die Wiese bis zu den Hunden. Vor Angst schreckte er für ein paar Sekunden zurück. Dann aber sah er das Kind unter dem Mann, und er sah noch mehr: "Die Hunde waren fixiert auf den Kleinen, ab er die waren nicht aggressiv, die haben das genossen." Bei wölfen wie bei Hunden, so weiß die Expertin Feddersen-Petersen, "ist das Beutefangverhalten, Hinterherjagen, Packen, Töten, ausgesprochen lustbetont".
Der Schlosser Dragan Juric, 29, ein Bosnier, der bei einem Umzug an der Buddestraße half, kam von der anderen Seite angerannt und zerrte, ohne eine Sekunde zu zögern, Zeus am halsband zurück. Er klemmte sich den Hund zwischen die Beine: "Nein, der versuchte nicht zu beißen, der versuchte nur, sich rauszureißen." Animiert durch die mutige Tat, packte Aydogdu Gipsy und hielt sie fest.
Der Blick von Volkans Augen aus seinem versehrten Gesicht schockte die beiden Helden. Juric verlor die Beherrschung: "Ich habe rumgeschrien, warum keiner was tut." Er hob Zeus' Leine vom Boden auf und schlug mit dem Karabinerhaken wie besinnungslos auf den Rüden ein.
Wie eingebrannt sind vor Aydogdus inneren Augen "die drei Erwachsenen, die nur zugeguckt haben". Die Schule müsse doch voll von Lehrern und voll von Stühlen gewesen sein, er könne bis heute nicht verstehen, warum in den zehn Minuten von volkans Todeskampf nichts geschah: "Die meiste Schuld habne die Lehrer, die wollten nichts riskieren."
Als die Polizei kam, war auch Silja, von Kindern geholt, auf der Schulwiese. Sie schrie die Beamten an, si esollten doch endlich schießen. Ibo, der mit seinen blutenden Händen Zeus wieder unte rKontrolle hielt, ließ ihn los und rief: "Schießt mich nur auch gleich tot."
Die Polizisten brauchten für Zeus und Gipsy 18 Kugeln.
Nach Volkans Tod wurden in vielen Bundesländern neue Hundeverordnungen erlassen und alte verschärft. Die Spaltung der Gesellschaft in Leute mit großen Hunden und Leute mit kleinen Kindern oder kleinen Hunden vertiefte sich. Erbitterung auf beiden Seiten erzeugte einen Druck der Straße, aber Erwartungen harter Strafen wird dsa Gericht wohl nicht erfüllen, wenn es Mitte Januar sein Urteil fällt. Siljas "Baby" und Ibos Alter Ego sind doch längst tot.
Marion, Tau & Tiptoe
[Dieser Beitrag wurde von Marion am 31. Dezember 2000 editiert.]