Ist es denn wirklich der eigentliche Wesenszug? Ich habe ein paar Mal Leute, die ich als richtig nett und freundlich kannte, gegen Ende als sehr misstrauisch bis hin zu richtig fies erlebt.
Solange ich denken kann, also über 50 Jahre..., hatten wir zuhause immer Pflegefälle. Immer.
Erst Oma, dann Opa, dann meine Patentante, jetzt meine Tante (die zwar mittlerweile im Pflegeheim ist, aber dort trotzdem täglich von meiner selbst inzwischen körperlich sehr stark eingeschränkten Mutter betreut wird).
Bei allen habe ich die verschiedenen "Stufen" ihrer Krankheiten, ihres Alterns, ihres Verfalls miterlebt. Zweimal davon Alzheimer, über jeweils viele Jahre hinweg, bis zum Tod.
Und beide Alzheimerpatienten waren zeitlebens sehr freundliche, fröhliche Menschen, mein Opa zusätzlich auch ein besonders ruhiger, besonnener und außerordentlich intelligenter Mensch, der trotz seiner provinziellen Herkunft und der nie vorhandenen Möglichkeit auf eine höhere Bildung, ein enormes Wissen hatte.
All das, wirklich alles, hat die Krankheit aufgefressen. Auch jeden Wesenszug.
Alles.
Menschen, die ihr ganzes Leben nur lieb und gütig und geduldig waren, garstig und aggressiv zu erleben, ist schon schlimm.
Bei meinem Opa war ich noch ziemlich jung, als es schlimm wurde, und konnte das überhaupt nicht richtig begreifen. Auch woher er diese merkwürdigen Geschichten und Anschuldigungen manchmal hatte, konnte ich mir einfach nicht erklären. Da war aber schlichtweg nichts erklärbar oder auf irgendwelche tatsächlichen persönlichen Erlebnisse zurückzuführen. Heute denke ich, daß das kaputte Gehirn einfach alles zusammenschustert, was es je verarbeitet hat. Alles, was man je tatsächlich erlebt oder auch nur mal gelesen, gehört, im Fernsehen gesehen hat, wird zu einem Gedankenbrei, zu einer neuen "Realität" im Kopf.
Später bei meiner Patentantante hab ich das alles nicht mehr so sehr hinterfragt.
Als sie schon nicht mehr wirklich sprechen konnte, sich aber jedesmal, wenn mein Vater das Zimmer betrat, ein garstiges: "A. rschloch!" abmühte, konnten wir zum Glück dann nur noch "lustig" finden und haben meinen Vater manchmal damit aufgezogen.
Auch daß sie dem Pfarrer, der ihr regelmäßig die Krankenkommunion brachte, grundsätzlich zur Begrüßung böse die Zunge rausstreckte, fand ich dann einfach sehr lustig.
Der Weg zu dem Punkt, wo das alles dann beherrschbar und bestenfalls nur noch amüsant war, war aber zeitweise schwer und vieles war unerklärlich und schockierend und auch verletzend für die Pflegenden.
Aber was ich eigentlich sagen wollte: was diese Krankheit zum Vorschein bringt, hat am Ende u. U. nichts (mehr) mit dem Menschen zu tun, der in diesem Körper mal gelebt hat...