Weil mir gerade irgendwie "weihnachtlich" zumute ist ... meine Lieblingsweihnachtsgeschichte
:
Die Wahrheit über Rudolph, das Rentier!
Rhythmisches Klopfen weckte den alten Mann.
Er setzte sich auf, strich die weißen Haare aus dem Gesicht und schaute in zwei braune mandelförmige Augen, die ihn erwartungsvoll anblickten.
„Ist ja gut, Rudi“, sagte der Mann und schob den Pitbull, der vor Aufregung mit dem ganzen Hinterteil wackelte, zur Seite und schlüpfte in die knallrote Hose.
„Machen wir uns an die Arbeit?“, erkundigte sich der Hund eifrig.
Elf lange Monate hatte der Pitbull sich gelangweilt, hatte niemanden zum Spielen außer den langweiligen Rentieren und dem alten Mann und freute sich nun, wieder unter Menschen zu kommen, die er so liebte und denen er so gerne jeden Wunsch erfüllte.
Ächzend ging der alte Mann zu dem niedrigen Tisch vor dem Kamin, der mit einer Menge Zettel übersät war. Wahllos griff er einen heraus und las ihn, nahm einen anderen und überflog ihn.
Aber hier… Missmutig brummelte der alte Mann: „Da wünscht sich doch tatsächlich wieder jemand ein Hundebaby.“
„Zeig mal her!“ Der Hund schob dem alten Mann den breiten Schädel unter den Arm und studierte aufmerksam den Zettel. „Das ist nicht nur ein Wunsch, das ist ein Herzenswunsch! Das ist meine Sache!“
„Rudolph, du weißt doch, dass lebendige Tiere nichts unter dem Weihnachtsbaum zu suchen haben“, seufzte der alte Mann, „spätestens an Ostern sind die Menschen ihrer überdrüssig und sie landen im Tierheim.“ Es war doch jedes Jahr das Gleiche.
„Nein nein, die hier sind anders“, erklärte Rudolph, der braune Pitbull, ernsthaft, „ihr Hund ist gestorben und sie wünschen sich von Herzen ein wuselig-wuscheliges Etwas. Sie wissen um ihre Verantwortung und Weihnachten ist perfekt: die Kinder haben Ferien, die Eltern Urlaub und sie haben die Zeit und die Geduld, damit sich das Hundekind eingewöhnen kann.“
Nachdenklich musterte der alte Mann Rudolph. Vielleicht hatte der Hund ja Recht. Bei der Erfüllung von Herzenswünschen hatte er viel öfter das richtige Händchen… äh… Pfötchen.
Ihm waren die normalen Wünsche, die die Menschen hatten, lieber: einen Flachbildschirm, eine Spielekonsole, teures Parfum, Smartphones und ähnlichen Krams.
Da konnte man nicht viel falsch machen, meistens waren sogar die Marke und das Modell angegeben und die Menschen waren zufrieden, wenn das Päckchen unter dem Weihnachtsbaum lag.
Aber manchmal gab es eben auch Herzenswünsche und die wurden dann häufig reklamiert, obwohl sie erfüllt wurden. Da war dann der gewünschte Partner zu jung oder zu dick, die gewünschte Wohnung zu laut oder falsch gelegen, die gewünschte Arbeitsstelle zu weit entfernt…
Dass die Menschen diese Wünsche aber auch nie präzise formulierten!
Von daher überlies der alte Mann die Erfüllung der Herzenswünsche gerne dem Pitbull, er schien genau zu wissen, wie er den Menschen Freude bereiten konnte und ging in seiner Aufgabe förmlich auf.
Wohlwollend betrachtete der alte Mann den muskulösen Hund, dessen glattes Fell im Schein des Kaminfeuers wie Samt schimmerte und der vor Energie bebte. Doch als er an die Diskussionen dachte, die ihm wie jedes Jahr bevorstanden, seufzte er.
Tage und Wochen arbeiteten der alte Mann und der Hund an der Erfüllung der Wünsche. Bestellungen beim himmlischen Versandhandel wurden getätigt, Lieferungen entgegengenommen, Päckchen wurden gepackt und gelagert, schließlich sortiert und auf den Schlitten geladen.
Rudolph bereitete indes die Herzenswunscherfüllung vor, eine schwierige und komplexe Angelegenheit, bei der er dafür sorgen musste, dass die Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren und dann auch noch bemerkten, das hier die Erfüllung ihrer Herzenswünsche stattfand. Wie sollte man denn den ersehnten Job durch den Schornstein plumpsen lassen? Das richtige Wetter für den Skiurlaub? Oder das Traumhaus? War ja schließlich nicht umsonst eine Immobilie…
Doch pünktlich zu Weihnachten hatten sie alles beisammen. Rudolph vibrierte vor Aufregung, wenn er daran dachte, welche Freude er den Menschen bereiten würde und konnte es kaum erwarten, die leuchtenden Augen und strahlenden Gesichter zu sehen.
„The same procedure as every year“, verkündete der alte Mann brummelig und holte die Kostüme aus der Kammer.
„Och nö!“, protestierte der Pitbull.
„Doch“, entgegnete der alte Mann, „wenn du mitwillst, wird sich verkleidet!“
„Aber…“, begehrte Rudolph auf.
„Weil du ein Kampfhund bist.“ Der Stimme des alten Mannes war anzuhören, dass er dies nicht zum ersten Mal erklärte. „Die Menschen haben Angst vor dir, sie würden dich fesseln und knebeln, wenn sie dich sehen, dich in einen Käfig sperren, bedrohen und beschimpfen und noch Schlimmeres. Du bist nun mal im falschen Fell geboren.“
Rudolph lies den Kopf hängen.
Ja, er war ein sogenannter Kampfhund und ja, er kämpfte.
Er kämpfte um seine Figur, er kämpfte mit seinem Gewicht, er kämpfte um die Wunscherfüllung...
„...und erfolglos um deinen Verstand!“, vervollständigte der alte Mann spöttisch Rudolphs Gedanken.
Rudolph wusste ja, welch ein Schicksal seine Kollegen erlitten und wie gut es ihm bei dem alten Mann erging. Traurig summte er den
Pitbull-Blues: I´m a pitbull, a big brown rednose pitbull…
Es war so ungerecht!
Da trainierte er elf Monate im Jahr, damit er stark genug war, den schweren Schlitten mit den vielen Geschenken zu ziehen und dann fürchteten die Menschen ihn ausgerechnet wegen seiner Kraft, ihn, dessen größte Freude es war, ihnen ihre Wünsche zu erfüllen.
„Ach, komm, Rudi“, versuchte ihn der alte Mann zu trösten. „Meinst du denn, mir macht es Spaß, mich als Coca Cola-Dose zu verkleiden?“
Jetzt musste der Hund doch grinsen, in Wahrheit sah der alte Mann in seiner Verkleidung eher aus wie ein Fass als eine Dose.
Er sah zu wie der alte Mann die rote Jacke überzog und die rote Mütze auf den Kopf stülpte, dann lies sich Rudolph bereitwillig den zotteligen Kunstpelz umbinden und das alberne Geweih aufstecken.
Der alte Mann schirrte den kräftigen Hund vor dem Schlitten an und tätschelte ihm den massigen Kopf, bevor er seinen Platz einnahm.
Er schnalzte mit der Zunge und Rudolph trabte vorsichtig an.
„Rudi?“
„Ja?“, hechelte der Pitbull vor Anstrengung.
„Denk dran, du bist berühmt.“ Der alte Mann konnte die Schadenfreude in seiner Stimme nicht ganz verbergen. „Die Menschen glauben, du wärst Rudolph, das rotnasige Rentier.“
Der Glanz kehrte in Rudolphs Augen zurück. Er wurde geliebt – als was war schließlich unwichtig.