Ganz gut um meine Sichtweise auf Religion zu erläutern ist das Winterreifen-Beispiel von Rabbi Simon. Er klaut nicht die Ziege seines Nachbarn, aber auch nicht dessen Winterreifen.
Wenn man nun aber konservative Scheuklappen aufsetzt, müsste man sagen, die Winterreifen darf man klauen. Davon ist in keinem religiösen Text die Rede. In religiösen Texten und da wird das Judentum nicht viel anders sein als das Christentum oder der Islam, stehen Dinge wie: Du darfst keine Ziegen und Hühner stehlen, nicht die Tochter des Nachbarn entehren, nicht seine Ernte kaputt machen.
Heißt das jetzt, dass ich nur keine Hühner und Ziegen stehlen darf, aber alles andere schon? Und dass sich zwar seine Ernste nicht kaputt machen darf, aber sein Blumenbeet? Nein, das sind ganzheitliche Regeln, Ziege und Huhn sind nur Beispiele. Du sollst nicht stehlen, sollst das Eigentum deiner Mitmenschen nicht beschädigen, du sollst deine Mitmenschen mit Respekt behandeln. Auch orthodoxe Christen, Juden, Muslime verstehen das so und erweitern diese sehr detailliert formulierten Regeln ganz automatisch in Gedanken. Ganz selbstverständlich nehmen sie einen detaillierten Satz und bringen ihn in die Moderne. So selbstverständlich, dass es ihnen selbst vermutlich gar nicht auffällt.
Warum also sperren sie sich trotzdem so dagegen, diesen Schritt in die Moderne auch in anderen Bereichen zu unternehmen? Damit könnte man vermutlich Seiten füllen und das will ich hier gar nicht.
Ich will nur zu bedenken geben: Es ist keine halbe Sache und keine inkonsequenz, einerseits gläubig und traditionell zu sein, aber andererseits die heiligen Schriften gleich welcher Religion in die Moderne zu übertragen. In die Moderne zu übertragen, indem man ihre Quintessenz versteht.
Ich verstehe einerseits, warum @HSH-Halter meint es sei schwieriger orthodox zu leben. Das schränkt das normale Leben sehr ein und man muss immer wieder an sich arbeiten, sich zwingen. Das ist Hingabe, klar. Das ist ein wenig wie buddhistische oder christliche Mönche, das ist wie Askese.
Ich persönlich denke aber, dass es auch äußerst schwierig ist seine Religion in die Moderne zu übertragen, ganz einfach weil man dafür die Botschaft in den religiösen Texten verstehen muss. Und dass DAS schwierig ist steht außer Frage, darüber streiten sich schließlich seit Jahrtausenden Geistliche und verschiedene Strömungen innerhalb einer Religion.
Ein Beispiel für Nichtverstehen der Quintessenz sind für mich die Zeugen Jehovas, die einerseits jede Regel strikt leben und bibelfester sind als so manch ein Pastor - aber andererseits behaupten sie folgen Jesus und seiner Botschaft, aber trotzdem Menschen ausschließen und wie Abschaum behandeln. Bei denen es Fehlverhalten gibt, das dich zum "Aussetzigen" macht, mit dem man nicht mehr redet. Das ist in meinen Augen "Die Botschaft von Jesus nicht verstanden". Weil sie Zeile für Zeile lesen und auswendig lernen, aber weder zwischen den Zeilen lesen, noch das große Ganze sehen können.
Meine Sichtweise habe ich hinreichend erklärt.