Das war aber in den 90ern schon ähnlich, ist also kein neues Phänomen
Als ich damals im Wohnheim neu angefangen habe, wurde an meinem ersten Arbeitstag eine 15-jährige vermisst. Sie kam über Nacht nicht nach hause. Natürlich war sie schon vermisst gemeldet worden.
Als die Mitarbeiterin mich im Büro mit den wichtigsten Dingen vertraut machte, stapfte das Mädel fröhlich ins Büro und meinte mit einem Grinsen:
"Bin wieder da. Als Strafe putz ich dann mal den Flur, okay?"
Meine Kollegin grinste zurück und meinte: "Okay, mach das..."
Das wars - ich staunte nicht schlecht
Strafen sind auch bei meinem Arbeitgeber ein ganz ganz sensibles Thema. Ich muss mich für jede kleinste Konsequenz wirklich doppelt und dreifach rechtfertigen.
Andere Erziehungsstellen wurden sogar schon zum Gespräch zur Bereichsleitung zitiert, weil sie angeblich unangemessen bestraft hätten. Und da reden wir von ganz normalen Dingen wie: Handy weg, Fernsehverbote, usw...
Eine Erziehungsstellenpädgogin mit der ich befreundet bin (sie arbeitet unter dem gleichen Träger) hatte einmal richtig Stress, weil sie ihren Pflegi "angefasst" hat. Situation: 8jähriger Junge ist rüber in den Nachbarsgarten und hat geklaut was er greifen konnte (BH´s von der Wäscheleine, Feuerzeug und Handy vom Gartentisch). Sie hat das mitbekommen, ihn am Arm gepackt und ist mit ihm rüber, wo er das Zeug zurückgeben und sich entschuldigen musste.
Ja, sie hat ihn angefasst. Sie hat ihn am Oberarm gegriffen und etwa 8 Meter zur Nachbarstür geschliffen. Sichtbare Spuren hatte der Junge davon aber nicht.
Du glaubst nicht, was das für einen Shitstorm gab. Jugendamt, Landesjugendamt, sogar von Anzeige war die Rede.
Ich meine, okay, professionell ist anders, aber wenn man 24/7 mit diesen Kindern lebt, ist man meist auch einfach nur Mensch und handelt aus dem Affekt heraus wie ein normaler Elternteil. Besonders bei harmlosen Geschichten reagiert man unbedachter und spontaner.
Ich selbst musste auch schon zum "Analyse-Gespräch" zur Bereichseitung, Chef, einem externen Krisenberater. Weil ich einem Pflegi gegenüber massiv handgreiflich wurde. Ein 11jähriger Junge den wir vor einiger Zeit betreut haben, hat sich hier bei uns ein Kabel um den Hals gebunden, fest zugezogen und einen Knoten drauf gemacht. Er lief binnen Sekunden knallrot an und wollte sich nicht helfen lassen. Da bin ich tatsächlich wirklich grob geworben. Ich weiß im Detail gar nicht mehr, was ich genau gemacht habe. Ich habe ihn in die Ecke gedrückt, Arme hinter den Rücken, ich glaube er hat im Affekt auch irgendwo mein Knie abbekommen. Nach einigem Gerangel konnte ich das Kabel entfernen, ihn in den Flur zerren und den Notruf wählen. Er hatte danach sichtbare Spuren.
Obwohl ich all das nur getan habe, um ihm zu helfen, musste ich mich für jeden kleinsten Handgriff massiv rechtfertigen.
Ich kann ja verstehen, dass soetwas genau dokumentiert werden muss. Solche Vorfälle sind kritisch und da müssen die Handgreiflichkeiten der Pädagogen genau dokumentiert und erklärt werden. Aber es hatte trotzdem alles so einen vorwurfsvollen Ton. Ich musste mich immer wieder dafür rechtfertigen, warum ich es so und nicht anders gemacht habe. Da kamen total unrealistische Fragen, warum ich nicht einfach nur den Notruf gewählt und auf diesen gewartet hätte.
Bereichsleitung und Fachberatung waren dann auch zum Gespräch hier, um auch mit meinem Mann zu sprechen. Oh man .... Im Nachhinein muss ich lachen, aber in der Situation hätte ich ihn echt treten können. Es wurde gefragt was wir tun, wenn soetwas wieder passiert. Da sagte mein Mann: Wir lassen A. ersticken, dann muss Britt sich anschließend für nichts rechtfertigen.