In Russland kommen Wolfsrudel bis
vor die Städte
Erstmals seit der Nachkriegszeit werden die grauen
Räuber wieder zur Landplage - Hungrige Tiere fallen
immer öfter Menschen an
MOSKAU. Das hat es in Russland seit Jahrzehnten
nicht gegeben: Wolfsrudel tauchen in besiedeltem
Gebiet auf, reißen Tiere in Herden und Höfen und
fallen auch Menschen an. Im Süden des Landes, bei
Rostow am Don, sind bereits mehrere Opfer zu
beklagen.
Von Elke Windisch
Derartige Geschichten hat man in Russland schon
seit Jahrzehnten nicht mehr gehört: Immer häufiger
wird von großen Wolfsrudeln berichtet, die in
unmittelbarer Nähe von Ortschaften gesichtet werden.
Allein am Don, wo zu Sowjetzeiten zuletzt um die 200
Wölfe gezählt wurden, erreichte die Population nach
dem letzten Wurf im April mehr als 2500 Stück. Ganze
Rudel wurden in der Nähe der Großstadt Rostow
geortet. Und auf dem flachen Lande fallen die sonst
eher scheuen Tiere, die um menschliche Siedlungen
gewöhnlich einen weiten Bogen machen, immer
häufiger direkt in Ställe und Höfe ein. Nicht einmal die
Bewohner sind mehr vor ihnen sicher.
Im Landkreis Tarassowo wurden an einem einzigen
Tag neun Menschen Opfer einer einsamen Wölfin. Die
stürzte sich zu- erst auf einen dösenden Hirten,
dessen Kühe sie seltsamerweise ignorierte, dann auf
drei Jugendliche, die in unmittelbarer Nähe des Dorfes
angelten, um dann am helllichten Tag auf einem
Bauernhof Menschen wie Hunden an die Gurgel zu
springen, bis eine Kugel sie niederstreckte. Ähnliches
ereignete sich kurz darauf im Nachbardorf, wo eine
Frau nach dem Biss in die Halsschlagader verblutete.
Vier Menschen liegen im Krankenhaus. Auch in der
rund 600 km entfernten Region Stawropol fiel ein
einzelner Wolf jüngst drei Klein- kinder beim Spielen
auf der Dorfstraße an.
Weil allein der Schaden an gerissenem Vieh sich auf
70 Mio. Rubel (2,5 Mio. Euro) beläuft, dürfen die Wölfe
inzwischen wieder das ganze Jahr über gejagt werden.
Im Jahre 2000 wurden im Gebiet Rostow am Don
insgesamt 837 Tiere zur Strecke gebracht, im
vergangenen Jahr waren es schon weit über 1000.
Experten befürchten aber, dass dem grauen Räuber
so kaum beizukommen sei.
Sie machen für die Wolfsplage vor allem den
Tschetschenienkrieg verantwortlich.
Flächenbombardements und tägliche
Positionskämpfe zwischen Freischärlern und Soldaten
Moskaus haben die Wölfe aus ihren Höhlen in den
Bergen des Kaukasus in die Niederungen an Wolga,
Don und Kuban vertrieben - in die Steppen, wo sie
ihren Hunger in freier Wildbahn nur unzureichend
stillen können.
Ein ausgewachsener Wolf braucht etwa fünf Kilo
Fleisch pro Tag und reißt ge- wöhnlich Rehe, Elche
und Rentiere. In Notzeiten verschmäht er auch das
aufwendiger zu jagende Kleinvieh nicht: Hasen oder
Füchse. Im Grasland aber sind selbst die nur spärlich
vertreten. Dazu kommt, dass die staatlichen
Abschussprämien für Jäger kaum Anreiz bieten. Zwar
gibt es statt bisher 200 Rubel (ca. 7,2 Euro) jetzt für
jeden erlegten Wolf 700 (26 Euro), für eine Wölfin
sogar 1000 Rubel (36 Euro). Die Kosten von Sprit,
Jagdhunden und Proviant veranschlagen Profijäger,
die von durchschnittlich drei Pirschgängen ausgehen,
pro Abschuss auf 2000 bis 3000 Rubel.
Experten gehen daher inzwischen von mindestens 50
000 Tieren allein im europäischen Teil Russlands
aus. Nur im Bürgerkrieg 1920 waren es mehr. Auch in
Gebieten, wo Isegrim seit Ende des Zweiten
Weltkrieges nicht mehr gesichtet wurde, versetzen
ganze Rudel die Menschen wieder in Angst und
Schrecken. Ältere erinnern sich wehmütig an die
Zeiten von Väterchen Stalin. Zwischen 1943 und 1948
gab es in allen Genossenschaften und Staatsgütern
Wolfsjägerbrigaden. Unter Führung der
Parteiorganisationen rückten sämtliche Männer des
Dorfes zum Ausheben von Jungwölfen aus oder zu
Treibjagden mit Hubschraubern und Miststreuern. Und
die Abschussprämien konnten sich ebenfalls sehen
lassen. Pro Wolf gab es 120 bis 200 Rubel - das
entsprach einem zweiten Monatsgehalt. Der
Durchschnittslohn lag bei 150 Rubeln. Das waren
damals fast 200 Dollar und wegen der niedrigen
Lebenshaltungskosten mehr als auskömmlich. Ganze
Dynastien von Wolfsjägern gab es damals. Tricks und
Kniffe wurden von Generation zu Generation
weitergegeben: Wissen, das längst verschüttet ist.
Die Bauern am Don fordern jetzt vom
Landwirtschaftsministerium eine Neuauflage des
Anti-Wolf-Programms, bis jetzt erfolglos. Auch Moskau
hat das Artenschutzabkommen ratifiziert und befürchtet
einen neuen Skandal, zumal einheimische
Tierschützer bereits Alarm schlagen.
Wichtigstes Argument der Grünen für die Wölfe: Der
Sanitäter des Waldes frisst auch Nager, die die Ernte
schädigen und ansteckende Krankheiten übertragen.
Dorfbewohner sind da anderer Meinung. Sie wollen
festgestellt haben, dass sich Hamster und Feldmäuse
zusammen mit den Wölfen mehr als je bisher
vermehrt haben.
Aktualisiert: 11.02.2002, 05:35 Uhr
oder
vor die Städte
Erstmals seit der Nachkriegszeit werden die grauen
Räuber wieder zur Landplage - Hungrige Tiere fallen
immer öfter Menschen an
MOSKAU. Das hat es in Russland seit Jahrzehnten
nicht gegeben: Wolfsrudel tauchen in besiedeltem
Gebiet auf, reißen Tiere in Herden und Höfen und
fallen auch Menschen an. Im Süden des Landes, bei
Rostow am Don, sind bereits mehrere Opfer zu
beklagen.
Von Elke Windisch
Derartige Geschichten hat man in Russland schon
seit Jahrzehnten nicht mehr gehört: Immer häufiger
wird von großen Wolfsrudeln berichtet, die in
unmittelbarer Nähe von Ortschaften gesichtet werden.
Allein am Don, wo zu Sowjetzeiten zuletzt um die 200
Wölfe gezählt wurden, erreichte die Population nach
dem letzten Wurf im April mehr als 2500 Stück. Ganze
Rudel wurden in der Nähe der Großstadt Rostow
geortet. Und auf dem flachen Lande fallen die sonst
eher scheuen Tiere, die um menschliche Siedlungen
gewöhnlich einen weiten Bogen machen, immer
häufiger direkt in Ställe und Höfe ein. Nicht einmal die
Bewohner sind mehr vor ihnen sicher.
Im Landkreis Tarassowo wurden an einem einzigen
Tag neun Menschen Opfer einer einsamen Wölfin. Die
stürzte sich zu- erst auf einen dösenden Hirten,
dessen Kühe sie seltsamerweise ignorierte, dann auf
drei Jugendliche, die in unmittelbarer Nähe des Dorfes
angelten, um dann am helllichten Tag auf einem
Bauernhof Menschen wie Hunden an die Gurgel zu
springen, bis eine Kugel sie niederstreckte. Ähnliches
ereignete sich kurz darauf im Nachbardorf, wo eine
Frau nach dem Biss in die Halsschlagader verblutete.
Vier Menschen liegen im Krankenhaus. Auch in der
rund 600 km entfernten Region Stawropol fiel ein
einzelner Wolf jüngst drei Klein- kinder beim Spielen
auf der Dorfstraße an.
Weil allein der Schaden an gerissenem Vieh sich auf
70 Mio. Rubel (2,5 Mio. Euro) beläuft, dürfen die Wölfe
inzwischen wieder das ganze Jahr über gejagt werden.
Im Jahre 2000 wurden im Gebiet Rostow am Don
insgesamt 837 Tiere zur Strecke gebracht, im
vergangenen Jahr waren es schon weit über 1000.
Experten befürchten aber, dass dem grauen Räuber
so kaum beizukommen sei.
Sie machen für die Wolfsplage vor allem den
Tschetschenienkrieg verantwortlich.
Flächenbombardements und tägliche
Positionskämpfe zwischen Freischärlern und Soldaten
Moskaus haben die Wölfe aus ihren Höhlen in den
Bergen des Kaukasus in die Niederungen an Wolga,
Don und Kuban vertrieben - in die Steppen, wo sie
ihren Hunger in freier Wildbahn nur unzureichend
stillen können.
Ein ausgewachsener Wolf braucht etwa fünf Kilo
Fleisch pro Tag und reißt ge- wöhnlich Rehe, Elche
und Rentiere. In Notzeiten verschmäht er auch das
aufwendiger zu jagende Kleinvieh nicht: Hasen oder
Füchse. Im Grasland aber sind selbst die nur spärlich
vertreten. Dazu kommt, dass die staatlichen
Abschussprämien für Jäger kaum Anreiz bieten. Zwar
gibt es statt bisher 200 Rubel (ca. 7,2 Euro) jetzt für
jeden erlegten Wolf 700 (26 Euro), für eine Wölfin
sogar 1000 Rubel (36 Euro). Die Kosten von Sprit,
Jagdhunden und Proviant veranschlagen Profijäger,
die von durchschnittlich drei Pirschgängen ausgehen,
pro Abschuss auf 2000 bis 3000 Rubel.
Experten gehen daher inzwischen von mindestens 50
000 Tieren allein im europäischen Teil Russlands
aus. Nur im Bürgerkrieg 1920 waren es mehr. Auch in
Gebieten, wo Isegrim seit Ende des Zweiten
Weltkrieges nicht mehr gesichtet wurde, versetzen
ganze Rudel die Menschen wieder in Angst und
Schrecken. Ältere erinnern sich wehmütig an die
Zeiten von Väterchen Stalin. Zwischen 1943 und 1948
gab es in allen Genossenschaften und Staatsgütern
Wolfsjägerbrigaden. Unter Führung der
Parteiorganisationen rückten sämtliche Männer des
Dorfes zum Ausheben von Jungwölfen aus oder zu
Treibjagden mit Hubschraubern und Miststreuern. Und
die Abschussprämien konnten sich ebenfalls sehen
lassen. Pro Wolf gab es 120 bis 200 Rubel - das
entsprach einem zweiten Monatsgehalt. Der
Durchschnittslohn lag bei 150 Rubeln. Das waren
damals fast 200 Dollar und wegen der niedrigen
Lebenshaltungskosten mehr als auskömmlich. Ganze
Dynastien von Wolfsjägern gab es damals. Tricks und
Kniffe wurden von Generation zu Generation
weitergegeben: Wissen, das längst verschüttet ist.
Die Bauern am Don fordern jetzt vom
Landwirtschaftsministerium eine Neuauflage des
Anti-Wolf-Programms, bis jetzt erfolglos. Auch Moskau
hat das Artenschutzabkommen ratifiziert und befürchtet
einen neuen Skandal, zumal einheimische
Tierschützer bereits Alarm schlagen.
Wichtigstes Argument der Grünen für die Wölfe: Der
Sanitäter des Waldes frisst auch Nager, die die Ernte
schädigen und ansteckende Krankheiten übertragen.
Dorfbewohner sind da anderer Meinung. Sie wollen
festgestellt haben, dass sich Hamster und Feldmäuse
zusammen mit den Wölfen mehr als je bisher
vermehrt haben.
Aktualisiert: 11.02.2002, 05:35 Uhr
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